Die Mitfahrzentrale BlaBlaCar macht dem Fernbus-Platzhirsch Flixbus Konkurrenz. Der BlaBlaBus tritt mit Kampfpreisen von 99 Cent pro Fahrt an. Läutet das das Ende des Mitfahrens ein? Unser Wochenlexikon trauert um eine bedrohte soziale Technik, die nicht für jeden etwas ist
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Anhalter „Meißen oder Aachen“: Den ausgestreckten Daumen oder das selbstgemalte Schild mit der Wunschdestination sieht man nur noch selten. Medial beherrscht wird das Thema Trampen seit jeher vom Aspekt der realen und potenziellen Gefahren (➝ Zentralverriegelung). Zuletzt rotierte die Presse, als die Studentin Sophia L. 2018 von einem Lastwagenfahrer ermordet wurde. Rechtsextreme Kreise instrumentalisierten die Tat – L.s Familie wehrte sich gegen die Vereinnahmung.
Aber selbst bei Mitfahrgelegenheiten kann etwas passieren. Im Zweifelsfall weiß die Polizei dank Analyse der App, wer der Mörder ist. Dem Opfer hilft das nicht. Übrigens wird noch getrampt, die Reisewilligen sprechen heute gezielt Fahrer an Tankstellen an. Das meint der Lobbyverein Deutsche Autostoppgesellschaft, dessen Name allerdings selbst aus der Zeit gefallen scheint. Tobias Prüwer
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Begegnung Als ich das letzte Mal mitfuhr, fand ich mich wieder in einem viel zu engen VW Beetle mit folgendem Ensemble: Einem Kampfsportler und Türsteher, einer Fußball-Schiedsrichterin und Influencerin und einem Personalmanager und Hippie. So unterschiedlich die Menschen, so verschieden waren die Ansichten. Der Kampfsportkumpel erzählte von seinen Erfahrungen als Türsteher in einem Fetischclub. Er habe schon Banker gesehen, die sich an der Leine herumführen ließen. Die Influencerin beklagte sich, sie sei in selbigen nicht reingekommen – zu viel Stoff. Der Hippie meinte, es handele sich um einen Raum kultureller Freiheit. Ich twitterte die gesamte Fahrt über, es war surreal (➝ Sage).
Als die Influencerin fragte, wo man in Berlin fernab von Fetischclubs „normale Männer“ kennenlernen könne, schwieg das komplette Auto. Kampfsportkumpel brach die Stille irgendwann wieder auf: Die Gesellschaft sei krank, vor allem die Politik und die Presse. Es war wirklich eng im VW Beetle. Konstantin Nowotny
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Fliegen Nur fliegen ist schöner, vertikale Fortbewegung ist das neue Bling-Bling. Die Das 5. Element-Generation ist in die Politik eingezogen, daher geht nichts mehr unter Flugtaxis. Fragen Sie Dorothee Bär. Wie sich die selbst im Film gezeigte chaotische Luftraum-Situation in der Realität regeln lassen soll, kann die Digitalministerin nicht beantworten. Aber immerhin eine Politikerin mit Visionen – oder so.
Kommen die Flugtaxis, wird der Markt für klassische Mitfahrgelegenheiten passé sein. Oder er verlagert sich von der Straße in die Luft. Wer hat noch Lust auf linearen Stau, wenn man den auch höhenverstellbar erleben kann? Und sind der Drohnensteuerer am Joystick oder die sogenannte künstliche Intelligenz (➝ Roboter) im Cockpit nicht vertrauensseliger als der Fremde, der zur Mitfahrt in seinem verbeulten Benziner einlädt? Zumindest bleibt man im Flugtaxi von dampfplaudernden Fahrern (➝ Begegnung) oder peinlichem Schweigen verschont. Zukunftsluft kann man schon jetzt mit Mitfluggelegenheiten schnuppern. Privatpiloten bieten auf Plattformen die Mitnahme im Flugzeug an – zum Beispiel für einen Kaffee auf Sylt. Das ist nicht super-billig, verspricht aber ein Abenteuer. Denn es bleibt der Faktor Mensch. Tobias Prüwer
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Hippies Wenn mein Vater Ende der 60er aus Urmia nach Maku an die iranisch-türkische Grenze fuhr, um seine Schwester zu besuchen, sah er sie: Hippies, die in Maku im Hotel übernachteten, bevor es weiter nach Täbriz, Teheran, Afghanistan und Indien ging. Die „Morgenlandfahrer“ reisten mit blumig bemaltem VW-Bus oder Mercedes O 302, dem VW Käfer oder per Anhalter – je nachdem, wie viel Geld sie hatten, diese westlichen Sufis, Abenteurer und Aussteiger, Männer und Frauen, langhaarig und gern indisch gekleidet (➝ Jack Kerouac). Es ist die Zeit des „Hippie trails“, der sich an der Seidenstraße orientierte. Seit Ende der 70er ist die Strecke nicht mehr befahrbar. In Afghanistan putschen die Kommunisten, dann marschieren sowjetische Truppen ein. Im Iran bricht eine linke Revolution aus, die schrittweise in Richtung islamische Republik gelenkt wird. Behrang Samsami
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Jack Kerouac Dass Straßen mehr sind als die Verbindung von Orten, dass sie Reisenden den Ausstieg aus der Zeit versprechen, davon erzählt On the Road, Kultroman der Beatniks. Laut Erzähler, eine „Bestandsaufnahme von allem, was am Weg liegt“ im „alten, baufälligen, heiligen Amerika“ der 1950er: synthetische Träume, vom Krieg gezeichnete Außenseiter der Gesellschaft und Literatur – der schwule Allen Ginsberg, der Morphinist William Burroughs, Bop-Musiker, Huren, Hipster – Endstation: Mexiko, Zen und hohe Berge. Helena Neumann
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Knigge (Freiherr Adolph von), der für den Umgang mit Menschen gute Ratschläge parat hatte, kann auch Mitfahrer*innen nützlich sein. Jedenfalls finden sich im Netz allerlei „Knigges“ dafür. Viel Selbstverständliches wie Pünktlichkeit und nicht mit dem 500 Euro-Schein bezahlen ist dabei. Als einzige Mitfahrer*in vorn einsteigen, es sei denn anderes wird angesagt. Es kann nicht gut sein, die Füße aufs Armaturenbrett zu legen. Das Mitsingen alter Schlagerhüte ist auch nicht zu empfehlen. Nicht zu sehr entspannen, das kann den Fahrer schläfrig machen. Überhaupt: Nicht zu dicht auffahren. Gilt sowohl für den Fahrer und sein Auto als auch für die Mitfahrer*innen im Umgang mit dem freundlichen Autolenker, der sie ans Ziel bringt. Magda Geisler
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Niemals Auch wenn meine Familie das Modell kleinbürgerlicher Spießigkeit (➝ Knigge) darstellt: Im Reisen sind wir – metaphysisch gesprochen – der Schrankkoffer, der es bis in die Jetztzeit geschafft hat. Bei uns wurde nie mit dem Auto in den Urlaub gefahren. Das galt als anrüchig. Keine Bewegungsfreiheit, kein Glamour – und der Reisehut hätte im Fond kein Publikum gehabt. Und wo ist das Bordrestaurant?
Und diese Toiletten an Raststätten – „Widerlich!“, höre ich meine Verwandschaft rufen. Für sie waren langstreckenfahrende Familienväter egomanische Neandertaler. Ich weiß noch, wie meiner Tante fast die Kaffeetasse aus der Hand fiel, als ihr von der Adoleszenz ergriffener Sohn vorschlug, man könne doch eine Fahrgemeinschaft ausprobieren. Er hätte auch einen Bankraub vorschlagen können. Die Vorstellung, bei fremden Menschen mitzufahren, löst bei mir verdeckte Hysterie aus. Ich bleibe lieber in der Stadt und verreise, wie der Musiker Oskar Aichinger sein Spazierbuch nannte. Jan C. Behmann
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Roboter Der trampende Roboter „hitchBOT“ hat seinen Alterssitz im Paderborner Computermuseum. Blinken kann er noch, viel mehr ist nicht drin. Bei seiner letzten Reise als Anhalter fiel er Vandalen zum Opfer. Der Tramp-Roboter wurde 2014 von den Kommunikationswissenschaftlern Frauke Zeller und David Harris Smith in Kanada auf die Reise geschickt: Ein sympathisches kleines Wesen mit einem Eimer als Bauch und Gummistiefeln.
Unterwegs war er in Kanada, den USA, den Niederlanden und Deutschland – ein sozialwissenschaftliches Experiment. Der Roboter wurde als hilfsbedürftig wahrgenommen, wie die Wissenschaftler sagen: „Roboter können ein soziales Mitleid erregen, wenn sie klein und ein wenig unbeholfen sind.“ Nun steht hitchBOT nicht mehr am Straßenrand und wartet auf freundliche Menschen, wie Zeller erklärt: „Er hatte eben nur einmal und dann eben zum Ende seiner großen Reise das entscheidende Pech, einem bösartigen Menschen zu begegnen. Auch guten Robotern können böse Dinge widerfahren.“ Marc Peschke
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Sage In den Vor-Alpengebieten wird wahlweise gerne von der „Blumenfee“, dem „Nebelmädchen“ oder auch der „verlorenen Braut“ berichtet, die sich vor langer, langer Zeit der Hochzeit widersetzte, in dem sie nicht zur Trauung erschien und für immer verschwunden blieb. Immer wieder bezeugen Reisende auf dem Weg zur Passstation, hinter einer der unzähligen Kurven eine junge Frau in einem durchscheinenden weißen Kleid am Wegesrand erblickt zu haben, die ihnen mit einem Blumenstrauß zuwinkte und sie zum Anhalten aufforderte. Stoppte man wie hypnotisiert, würde die Frau sich auf die Rückbank setzen, wo sie ein Lied zu Summen beginne. Nach wenigen Kurven sei die Erscheinung dann wieder verschwunden, während ihr Summen noch eine Weile nachhalle. Den Blumenstrauß lasse sie aber zurück.
Auf diese Art ist der Brauch entstanden, in manchen Berghütten einen Blumenstrauß mit Bergblumen kopfüber an den Türrahmen zu hängen – ein Gruß von der „Blumenfee“. Kommt es zu Unfällen auf diesen Straßen, die allermeistens tödlich enden, kolportiert der Volksmund, dass da wohl einer das „Nebelmädchen“ habe stehen lassen. In von Klöstern geprägten Gegenden ist in dem Zusammenhang von einem Mönch die Rede, der sich im Dorf eine Kneipentour genehmigte und nun mit seinem Holzlöffel am Wegesrand stehe, den er im Wagen belasse, nachdem er verschwunden sei. So hat er den Löffel abgegeben. Marc Ottiker
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Transit Ja, die Avus, jene putzige Stadtautobahn (pardon: Rennstrecke), deren vom damals rot-grünen Senat durchgesetzte Geschwindigkeitsbegrenzung noch im Jahre ’89 zur Wut-Corso-Bildung führte: „Hundert uff der Avus? Ick gloob ick spinn!“
Nahm man nach der Vorbeifahrt an der, noch heute dekorativ zerfallenden Zuschauertribüne den Bleifuß vom Gaspedal, um sich nach „West-Deutschland“ einzufädeln, konnte man noch einen der Anhalter einsteigen lassen, die in kleinen Menschentrauben kurz hinter der Ausfahrt standen. Von langen Kreuzberger Nächten in Mitleidenschaft gezogene Gestalten, die möglichst ohne unnötige Komplikationen, je nach den hingekritzelten Destinationen auf ihren Kartons, nach Hannover, Nürnberg oder München zurückwollten (➝ Anhalter). Als Mitfahrer nicht unbeliebt, da die meisten nach dem Einsteigen sofort einschliefen. Lange vor dem heutigen „Hostel-Tourismus“, eine, allerdings noch harmlos-charmante, West-Berlin Folklore. Marc Ottiker
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Zentralverriegelung K. und ich hatten uns nur eine Regel gegeben: Nie bei zwei Männern einsteigen. Aber wir waren im Niemandsland mitten an der Autobahn (➝Transit) gelandet und nach Stunden hielt der Fiat mit den beiden Typen. Dann nahmen sie die Ausfahrt, wenig später hörten wir das Klicken der Zentralverriegelung. Der Wagen rumpelte über die abgelegene Landstraße und wir wurden durch den Rückspiegel gemustert. Ob wir keine Angst vor ihnen hätten, fragten sie. Nein, sagte K. Wir hätten ja eine Waffe dabei. Ob sie die mal sehen könnten, fragten sie. Nein, zu gefährlich, sagte K. Außerdem wäre es besser, sie würden sofort anhalten und uns aussteigen lassen. Sie taten es und fuhren davon. Ruth Herzberg
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