Ein warmer Tag auf der Halbinsel Peloponnes. Von der quirligen, lärmerfüllten Provinzhauptstadt Patras fahren wir an der Nordküste dieser Halbinsel entlang. 60 Kilometer Straße, sie führt über einen schmalen Landsaum, der von Buchten- und felsenreichen Ufern übergeht in den korinthischen Golf. Im Hintergrund erheben sich schroffe Gebirgsformationen, von denen diese Landschaft mehr als alles andere geprägt wird.
In Paralia Platà biegen wir ab, um auf einer sehr engen, gewundenen Straße nach Süden ins Innere der Peloponnes zu fahren. Der Weg führt durch ein wasserreiches, stellenweise urwaldähnlich überwuchertes Tal immer bergauf. Das Ziel liegt auf etwa 700 Meter Höhe und heißt Kalavrita, ein einladendes, freundliches Landstädtchen – und ein Symbol für den Freiheitswillen der Griechen. Unter schattenspendenden Platanen liegt vor der Kirche in der Ortsmitte der große Platz, auf dem abends kaum mehr ein Durchkommen ist. Gefeiert wird einmal im Jahr der – wörtlich übersetzt – „Tag, an dem alle Kalavritaner Brüder sind“. Er gilt allen, die in Kalavrita geboren wurden – ob sie nach Kanada ausgewandert sind oder nur bis Athen kamen. Einige kurze Reden, dazwischen griechische Volkslieder, bei denen das Publikum einstimmt.
Was ist an diesem Ort Ende 1943 geschehen? Bis heute erinnern griechische Geschichtsbücher an die „Tragödie von Kalavrita“, die im September 1943 begann, als Hellmuth Felmy – damals kommandierender General des 68. deutschen Armeekorps – befahl, die Gegend zwischen Patras und Kalavrita von Partisanen zu „säubern“. Truppen wurden in die Küstenregion um Agion verlegt und sollten ins Gebirge vorstoßen. Mitte Oktober kam es zu Gefechten zwischen deutschen Soldaten und griechischen Partisanen. Denen gelang es – obwohl zahlenmäßig unterlegen –, den Gegner so zu verwirren und in einen Hinterhalt zu locken, dass einzelne Verbände fast völlig aufgerieben wurden. Dabei gerieten 83 Soldaten in Gefangenschaft, wurden auf einzelne Dörfer verteilt und ärztlich versorgt, sofern sie verwundet waren.
In den folgenden Wochen kam es zu Verhandlungen über die Freilassung der Internierten, auf griechischer Seite geführt durch den Metropoliten von Agion, der als Gegenleistung Freiheit für 80 festgesetzte Partisanen verlangte. Obwohl fast die Hälfte der gefangenen Deutschen mehr oder weniger schwer verletzt war, und es nicht genügend Medikamente gab, gelang es, alle ausreichend zu versorgen. Dennoch erlagen drei Soldaten ihren schweren Verwundungen. Ihr Tod wurde für die Wehrmacht zur Rechtfertigung für Vernichtung und Terror.
Anfang November 1943 begann eine von der Besatzungsmacht offenbar schon länger vorbereitete Operation, um die Bevölkerung auf dem Peloponnes einzuschüchtern und zu bestrafen. In der Hafenstadt Patras wurden Männer und Frauen öffentlich exekutiert. Ende November bewegte sich ein Verband von etwa 1.000 Mann zangenförmig auf Kalavrita zu. In allen Dörfern, die die deutschen Truppen passierten, wurde wahllos gemordet und geplündert. In Rogi starben 58 Bewohner, in Ägira fünf, im Dörfchen Skepaston alle 16 Einwohner und in Kirpini 39. Im Kloster Mega Spileon wurden sämtliche Mönche getötet – es war das schaurige Vorspiel all dessen, was Kalavrita bevorstand. Trotz des deutschen Vormarschs lebten Anfang Dezember 1943 noch alle gefangenen deutschen Soldaten – am 8. Dezember nicht mehr.
Lied zum Abmarsch
Was am 12. und 13. Dezember in Kalavrita geschah, hat eine Bewohnerin, eine junge Deutschlehrerin, später aufgeschrieben. Sie wollten ihren Namen in den Jahrzehnten danach nie veröffentlicht sehen, weil sie immer noch unter traumatisch verwurzelter Angst zu leiden hatte. Hier Auszüge ihres Berichts:
„Die deutschen Truppen kamen einige Tage vor dem entsetzlichen Morden am 13. Dezember 1943 nach Kalavrita. Kein Einwohner durfte die Stadt verlassen. Der deutsche Kommandeur, Major Ebersberger, gab sein ‚Ehrenwort‘, dass nichts gegen die Bevölkerung unternommen werde. Daraufhin kehrten einige Bewohner zurück, die vor den Deutschen in die Berge geflohen waren.
Am 13. Dezember, einem Montag, war die Stadt völlig umstellt. Die Kirchenglocken läuteten. Es gab den Befehl, alle Bewohner hätten sich sofort in der Ortsmitte vor dem Gotteshaus zu versammeln. Die männlichen Bewohner ab zwölf Jahren sollten Decken mitnehmen, Essen für drei Tage und sich auf einen Arbeitseinsatz vorbereiten. Auf dem Sammelplatz wurden Männer und Frauen getrennt. Aus Angst stellten sich auch einige Jungen, die deutlich jünger als zwölf waren, zu den Männern ...
Ein Gerücht jagte das andere. Es hieß, die Männer sollten nach Deutschland deportiert werden. Gegen Mittag führte man sie weg, während Frauen und Kinder in eine Schule gesperrt wurden, als plötzlich Schüsse zu hören waren. Die Ermordung der Männer hatte begonnen, was wir zu diesem Zeitpunkt nicht wussten. Ich kletterte im Schulhaus auf den Dachboden, um durch ein Fenster zu sehen, was draußen vorging. Vor dem Gebäude stand ein Soldat. Ich fragte ihn, werden sie uns im Haus verbrennen? Da nickte er mit dem Kopf und weinte. Unter den eingesperrten Frauen brach Panik aus. Mit aller Gewalt erbrachen sie Türen und Schlösser. Ich riss ein Fenster auf und fiel in dem Gedränge raus auf den Hof. Der Soldat, der uns im Schulhaus bewachen sollte, lief weg. Alle aus dem Schulgebäude stürzten ins Freie. Wir liefen auf die Felder, drehten uns um und sahen, wie Kalavrita lichterloh brannte.
Um fünf Uhr nachmittags, es wurde schon dunkel, hörte ich eine Frauen schreien: ‚Die Männer sind getötet worden.‘ Später stellte sich heraus, dass 1943 in Kalavrita und in den umliegenden Dörfern von der deutschen Wehrmacht 1.361 Menschen umgebracht worden waren.
In der Nacht zum 14. Dezember wagten wir uns zurück. Es war grauenhaft – überall lagen Leichen. Und wir hatten keine Schaufeln, um die Jungen und Männer zu begraben, denn so vieles war von den Deutschen geraubt oder vernichtet worden. Unter den Toten fand ich auch meinen Mann wieder, wir hatten erst Wochen zuvor geheiratet. Schließlich hörten wir die Deutschen sich formieren und abziehen. Sie stimmten Lieder an und marschierten davon ...
Wir begruben unsere Männer und Söhne mit bloßen Händen. In den folgenden Tagen kamen wilde Hunde, angelockt von den noch nicht bestatteten Leichen, so dass wir Wachen aufstellen mussten, um die Tiere zu vertreiben. Ich fand Zuflucht in einem kleinen Schäferhäuschen, von dem noch drei Wände standen. Unter dem Schutt konnte ich einen Ofen ausgraben. Es war Winter und in den Bergen sehr kalt .“
Soweit der Bericht von den Ereignissen der inzwischen verstorbenen Zeugin.
2.000 DM pauschal
Zurück in die Gegenwart, am Tag nach unserer Ankunft in Kalavrita gehen wir den Weg durch die Talsenke bis zu dem Ort des Massakers. Es ist eine karge, steinige Gegend. In der Nähe des Tatorts wurde eine nationale Gedenkstätte für die Ermordeten errichtet. Es gibt dort eine klare Quelle, „Kalavrita“ genannt – auf deutsch: „Gutes Wasser“. Landwirtschaftlich gibt die Gegend sonst nicht viel her. In dem weiten Talgrund, in dem das Städtchen Kalavrita liegt, lebten vor dem Krieg viel mehr Menschen als heute. Ende 1943 wurden dort ja nicht nur viele getötet, sondern auch Dörfer niedergebrannt und Ländereien verwüstet.
Zu den wenigen Fassaden, die den 13. Dezember 1943 beschädigt zwar, aber doch überstanden haben, gehörte die Vorderfront der Kirche. Wann das Gotteshaus vom Zerstörungswerk der Besatzer heimgesucht wurde, ist noch heute auf die Minute genau abzulesen – um 13:34 Uhr mittags blieb die Uhr stehen. Die Bewohner ließen sie beim Wiederaufbau an Ort und Stelle, ohne die Zeiger zu bewegen.
In einem deutschen Reiseführer zu Griechenland kann man lesen, dass Kalavrita 1943 „infolge von kriegerischen Auseinandersetzungen zerstört“ worden sei, dass aber die Bundesrepublik Deutschland erhebliche Wiederaufbauhilfe geleistet habe. Konkret hieß das, jeder betroffenen Familie wurden in den frühen fünfziger Jahren pauschal 2.000 DM zugestanden. Die Bundesregierung ging bei dieser Entschädigung davon aus, dass es in jeder Familie durchschnittlich zwei betroffene Angehörige gegeben habe. Was darüber hinaus an Unterstützung gezahlt wurde, hat kaum ausgereicht, das Wegenetz des Ortes wiederherzustellen. In Kalavrita sagte man uns, dass die griechische Regierung allein für die aus dem Ort im Krieg requirierten Pferde mehr Entschädigung gezahlt habe, als den Bewohnern von der Bundesregierung für die ermordeten Söhne und Väter zugestanden wurde.
Kalavrita – bis heute noch immer kleiner als vor dem Massaker – ist vor allem durch den Fleiß seiner Bewohner wiederaufgebaut worden. Man sieht der Stadt und ihrer Umgebung auf den ersten Blick nicht mehr an, welche Tragödie sie hinter sich hat. Auf der Gedenkstätte am Ort des Massakers stoßen wir auf hohe Steinplatten, auf denen die Namen sämtlicher ermordeter Bewohner eingemeißelt sind. Spaltenlang sieht man Altersangaben von 13, 14, 15, 16 und 17 Jahren. Eine kleine Gruft ist das Zentrum der Gedenkstätte, weil hier nach Tradition der griechisch-orthodoxen Kirche für jeden der Ermordeten ein Öllämpchen hängt. Im April 2000 hat der damalige Bundespräsident Johannes Rau die Toten durch einen Kranz geehrt. Der Platz vor dem Mahnmal strahlt eine unendliche Ruhe aus. Er erlaubt es, einen weiten Blick in eine schöne Gegend zu genießen – bis zu den in der Ferne liegenden Bergmassiven, die bis zu 2.000 Meter hoch emporsteigen.
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