Den Ost-West-Konflikt als den zwischen "erster" und "zweiter" Welt gibt es nicht mehr. Die "Dritte Welt" aber wird noch heute im internationalen Sprachgebrauch synonym für "Entwicklungsland" verwandt, obwohl sie ursprünglich die sogenannten blockfreien Staaten bezeichnete, eine heterogene, nur in Abgrenzung von Ost und West funktionierende und seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre eigentlich nicht mehr existente Gruppe.
Sicher verlangt der Titel des Buches, Zwischen den Welten nicht nur nach dieser Deutung, nach der Indien eine Sonderstellung in Vergangenheit und Gegenwart innehätte, auch wenn es der Bewegung der Blockfreien durchaus angehörte. Aber welche Stellung Indien in der Weltzukunft haben wird, ist in der Tat eine sehr interessante Frage und eigentlich
ge und eigentlich nicht zu beantworten, ohne sich hinein zu begeben in diesen grandiosen Vielvölkerstaat, ihn von innen heraus verstehen zu lernen. Die Schranken für Europäer, zum Beispiel, sind gewaltig. Allein neunzehn Amtssprachen, einschließlich Sanskrit!, prägen die Kommunikation, die für Außenstehende nicht zu durchdringen ist. In den Städten wird meist Englisch gesprochen, aber sogar in Gebieten, die abseits des Hindi-Sprachgebrauchs liegen, zum Beispiel in Bombay, existiert ein sozusagen kreolisierter Hindi-Verschnitt mit fließenden Übergängen zu den indoarischen Sprachen des Nordens. Abgesehen von Dialekten, ist von etwa 220 Sprachen die Rede, die in Indien gesprochen werden.Das Buch versammelt Erzählungen, Romanausschnitte und Gedichte aus elf davon - ein kleiner Teil, der die gewaltigen Dimensionen nur andeuten kann. Es ist ein Buch des Kennenlernens, dessen Autoren zu einem guten Teil bereits auf Deutsch vorliegen: Ich habe dreiundzwanzig gezählt, was knapp die Hälfte der zweiundfünfzig versammelten ausmacht. Einige werden in diesem Jahr hinzukommen, in dem Indien das Schwerpunkt-Land der Frankfurter Buchmesse ist. Die Münchener Rundfunkjournalistin Cornelia Zetzsche hat sich der Unterstützung des National Book Trust versichert, und der bis Mai 2006 amtierende Präsident der Sahitya Akademi, des indischen Schriftstellerverbandes, lieferte ein Zweit-Vorwort neben dem kenntnisreichen der Herausgeberin. Darin skizziert K. Satchidanandan die Entwicklung der indischen Literatur im 20. Jahrhundert.Es tut gut, eine Anthologie vor sich zu haben, die die widerstreitenden, einander kaum duldenden Positionen in der modernen Literatur Indiens nicht (be)achten muss, da sie einen Zugang von außen wählen kann. Glückliche Fügung, denn so steht in dem Band die Marathi-Autorin Balchandra Nemade neben englischsprachigen Erfolgsautoren wie Amitav Ghosh, Kiran Nagarkar oder Sudhir Kakar. Die Frage, was deren Beitrag zur indischen Literatur sei, beantwortete Balchandra mit "Absolut nichts!", was ihr keine Freunde unter den englischsprachigen Autoren eingebracht haben dürfte. Dabei ist das Englische für viele die Sprache der schulischen Erziehung und kommt der eigentlichen Muttersprache damit nahe. Dass aber zwanzig der in Indien lebenden Autoren des Bandes englisch schreiben, zwei Non-Residents kommen noch hinzu, macht deutlich, dass das Englische noch immer eher eine Eintrittskarte in den internationalen Literaturbetrieb ist als Urdu oder Bengali. Die Gründe sind auf den ersten Blick verständlich. Wenn man aber weiß, dass beispielsweise Bengali von mindestens 215 Millionen Menschen als Muttersprache gesprochen wird, von denen noch dazu 140 Millionen gar nicht in Indien leben, sondern im Nachbarstaat Bangladesh, verschiebt sich der Blick.Bengali war auch die Sprache des einzigen indischen Nobelpreisträgers für Literatur, Rabindranath Tagore. Er erhielt ihn im Jahre 1913 für seine Gedichtsammlung Gitanjali, die er selbst, mit Unterstützung von William Butler Yeats, ins Englische übertragen hatte. Das Nobelpreiskomitee lobte "die tiefgründende, hochgesinnte Natur, die Schönheit und Frische seiner Dichtung, die sein Genie so großartig im englischen Gewand in die Schöne Literatur des Abendlandes einzuverleiben verstand." Die Sammlung beginnt, zeitlich gesehen, mit Tagore, der von 1861-1941 lebte und wohl als der konsequenteste Erneuerer indischer Literatur und Musik seiner Zeit und damit als Wegbereiter für nachgewachsene Autoren gilt. Und tatsächlich wirkt seine kleine Erzählung Der Postmeister, sieben Seiten lang und in den neunziger Jahren des vorvergangenen Jahrhunderts entstanden, modern. Sie fällt in keiner Weise aus der Sammlung, die ansonsten fast nur zeitgenössische Autoren enthält, heraus. Das hat sicher auch damit zu tun, dass die ländlichen Lebensverhältnisse im heutigen Indien denen von vor hundert Jahren nur dadurch entfernt sind, dass es in vielen Dörfern Strom gibt und der Hunger eher der Vergangenheit angehört ...Auffallend ist, welch großen Raum noch heute die Abtrennung von Ost- und Westpakistan im Jahre 1947 einnimmt. Ob in Bhisham Shanis Short Story Pali, Saadat Hassan Mantos berühmter Geschichte Toba Tek Singh oder Shashi Deshpandes Unabhängigkeitstag - die Blicke darauf sind unterschiedlich, aber von existentieller Wucht. Bhisham Shani schreibt von einem kleinen Hindu-Jungen, der seinen Eltern während der Flucht nach Indien verloren geht, von einer muslimischen Familie in Pakistan an Kindes Statt angenommen und nach Jahren der An- und Einpassung von den leiblichen Eltern mit staatlicher Unterstützung zurückgeholt wird. Saadat Hassan Manto nimmt sich, tragikomisch, die geplante Abschiebung hinduistischer Insassen einer Psychiatrie in Pakistan nach Indien vor, und in Shashi Deshpandes Geschichte erinnert sich eine Frau des undeutlichen Grollens, das die gewaltsame Teilung des Landes, die Flüchtlingsströme und die Not der Refugees verursachten, als sie selbst ein kleines Mädchen war und im Süden Indiens lebte.Es ist vielleicht ein besonderes Verdienst der Anthologie, Umstände und Gewalt dieser Teilung ins deutsche Gedächtnis zurückzurufen, das 1947 mit Verdrängung beschäftigt und dessen Aufnahmefähigkeit für fremdes Leid erschöpft war. Dass die Teilung noch heute nachwirkt, zeigt sich in den Erzählungen jüngerer Inder oder aber der 1973 geborenen pakistanischen Autorin Kamila Shamsie, die vor allem in ihrem Roman Kartographie damit ebenso wenig fertig wird wie die Generation ihrer Eltern. Ein Trauma, neben dem das der deutschen Teilung beinahe blässlich wirkte, wenn dessen Vorgeschichte nicht wäre.Ein weiteres Verdienst der Sammlung ist ohne Zweifel der Versuch, den Textproben biografische Skizzen der Autoren voranzustellen und ihr Schreiben Platz nehmen zu lassen in einem Kanon indischer Literatur. Dass dadurch nicht etwa ein Kastendenken der anderen Art befördert wird - Lade auf, Autor rein, Lade zu -, ist vermutlich der Herausgeberin zu danken, die bereit und sensibel genug ist, Wandlungen im Autorenleben zur Kenntnis zu nehmen und zu geben. Die Texte und Textschnipsel müssen aber notgedrungen verwirren, was in der Natur der Sache liegt, und anhand eines Auszuges von wenigen Seiten einen Roman einschätzen zu wollen, verbietet sich geradezu. Inwieweit das Buch also eine Vorstellung von den tatsächlichen literarischen Verhältnissen in Indien gibt, steht in den Sternen. Da die hier aber ebenso schön leuchten wie am Golf von Bengalen, lohnt das Hinschauen: Vielleicht können wir sie lesen.Zwischen den Welten. Geschichten aus dem modernen Indien. Herausgegeben von Cornelia Zetzsche, Insel, Frankfurt am Main 2006., 716 S., 24,80 EUR
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