Mittel gegen die Dunkelheit

Doku Janna Ji Wonders erzählt die Geschichte ihrer Vorfahren – aus weiblicher Sicht
Ausgabe 42/2021

Zu Beginn dieses nachdenklichen Films beantwortet die fünfjährige Janna vor der Kamera ihrer Mutter Fragen. Wer sie sei: eine Fee. Woher sie komme: aus Walchensee. Und wovor sie Angst habe: vor der Dunkelheit. Gewissermaßen ist Janna Ji Wonders Dokumentarfilm Walchensee Forever ein Mittel gegen die Dunkelheit, die sich in der Familiengeschichte ausgebreitet hat. Ein Schatten, der vor allem über den Biografien der Frauen liegt, von denen diese berührende Geschichte handelt.

Alles beginnt 1924, als Wonders Urgroßmutter Apa an den Walchensee zieht, um einen schmerzhaften Verlust hinter sich zu lassen. Sie eröffnet ein Café und erfüllt sich damit einen Lebenstraum. Als Königin in ihrem Reich wird sie im Film beschrieben, die in der Küche im schmucken Trachtenkleid stand. Ganz anders Großmutter Norma, die den Familienbetrieb pflichtschuldig übernahm. Mit einem jungen Friesen bekommt sie ihre erste Tochter Anna, kurz bevor er in den Krieg muss. Aus dem kehrt er innerlich kaputt zurück. Doch Norma muss sich um den Familienbetrieb sowie um Anna und ihre kleine Schwester Frauke kümmern. Während sich Norma und der Friese im Alltag voneinander entfernen, werden Anna und Frauke zu Verbündeten, erinnert sich die Mutter der Regisseurin.

Als die Eltern sich trennen, geht Frauke auf ein Internat und Anna nach München, um Fotografie zu studieren. Ihre Fotos aus den vergangenen Jahrzehnten bilden eine wichtige Grundlage dieses großartigen Films, der in seiner Illustration ein kleines Wunder darstellt. Janna Ji Wonders hat für jede Generation Bild- und Tonmaterial ausfindig machen können, das sie gekonnt arrangiert. Diese Souveränität im Bildhandling lassen schon ihre Dokus über die Gangster-Rap-Szene in Los Angeles (Bling Bling) und junge Moskauer Punks (Kinder der Schlafviertel) erkennen.

Wonders tauscht die Rollen zu Beginn des Films und befragt ihre Mutter vor der Kamera. Mit Briefen, Tagebucheinträgen und anderen Dokumenten regt sie dabei ihre Erinnerungen an, weil sich in ihrer Geschichte etwas unlösbar verknotet. Wonders fragt neugierig, offen und wohlwollend, aber auch eindringlich, denn sie will wissen, was für eine Traurigkeit sich da bei aller positiven Energie immer wieder über die Familie gelegt hat.

Sie rekonstruiert die Geschichte ihrer Mutter Anna, die geradezu romanhafte Züge hat. Anna und Frauke erobern in den Sechzigern mit Hackbrett und Gitarre die USA und Mexiko. Beim legendären Summer of Love tauchen sie vollends in die Hippie-Kultur ein. Der Bayerische Rundfunk berichtete über die singenden Schwestern auf Weltreise. Als Anna nun Jahrzehnte später die Stimme ihrer Schwester hört, kommen ihr die Tränen. Denn die Geschichte hat eine schmerzhafte Wendung. Kurz nach der Reise lernen die Schwestern Rainer Langhans kennen, der sich gerade von Uschi Obermeier getrennt hat. Mit ihm setzen sie ihre Selbstsuche fort. Frauke aber verliert sich, bricht zusammen, kommt in die Psychiatrie. Als Anna später in einem indischen Ashram lebt, stirbt Frauke bei einem mysteriösen Autounfall. Dieser Verlust schreibt sich Anna und Norma auf unterschiedliche Weise in die Seele ein. Während die eine verhärtet, vertieft die andere die Selbstsuche. Anna Werner wird Teil der alternativen Lebensgemeinschaft von Rainer Langhans.

Janna Ji Wonders will in ihrem Film verstehen, was genau die markanten Gesichter ihrer Mütter und Großmütter gezeichnet hat, um zu erkennen, was sie selbst prägt. An den Walchensee kehren die Frauen dieser Familie immer wieder zurück. An diesem zauberhaften Ort ist auch dieser preisgekrönte Film entstanden, der selbst dann vielsagend abhebt, wenn die Protagonistinnen Sprachlosigkeit überkommt.

Info

Walchensee Forever Janna Ji Wonders Deutschland 2020, 110 Minuten

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