Bis sich Saddam Hussein Ende der siebziger Jahre endgültig mit seinem autoritären Regime gegen alle Widersacher durchgesetzt hatte, war der Irak jahrzehntelang eine Arena vieler Bewegungen, Schulen und Tendenzen gewesen. Die KP zum Beispiel stieg noch vor dem Putsch gegen König Faisal II. im Juli 1958 zur größten kommunistischen Partei der arabischen Welt auf. Arabische Nationalisten verschiedenster Couleur rekrutierten in Bagdad ihre Anhänger. Im Irak - nicht in der Türkei, wo die meisten Kurden leben - entstand ein subtiler kurdischer Nationalismus. Im Irak fand auch der politische Schiitismus ein Domizil - an den heiligen Stätten von Nadschaf und Karbala trafen sich Gelehrte und Geistliche, wie Ayatollah Khomeini, der spätere iranische Revolu
olutionsführer, oder der 1980 unter Saddam Hussein hingerichtete Muhammad Baqir al-Sadr oder Fadlallah, der geistige Führer der libanesischen Hisbollah.Kluft zwischen Staat und GesellschaftEin nicht minder tätige Quelle für Vielstimmigkeit und Pluralität der irakischen Gesellschaft war deren multiethnische Struktur, bei der besonders ins Gewicht fiel, dass die sunnitisch-arabische Minorität, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung knapp unter zehn Prozent liegt, von den Briten bei der Gründung des Staates 1921 privilegiert wurde. Diese Prädominanz der Sunniten sollte fortan ungebrochen bleiben, die schiitische Mehrheit wie auch die kurdische Minderheit wurden von König Faisal I. (1921-1933) bis hin zu Saddam Hussein (seit 1979 Staats- und Regierungschef) nie angemessen in Gestalt einer Machtteilhabe berücksichtigt. Gesellschaftliche Zwangsintegration und politische Desintegration gehörten zur Machtphilosophie der sunnitischen Elite in Bagdad. Es war die Konsequenz einer derart segmentierten Gemeinschaft, dass sich nach dem Offiziersputsch von 1958 der Drang nach politisch motivierter Gewalt nur schwer zügeln ließ - Kommunisten standen gegen Baathisten, Baathisten gegen Nasseristen und Kommunisten, der Staat gegen die Kurden - Saddam Hussein gegen alle. Im arabischen Raum kursierte wie zur Bekräftigung der Legende, wonach Gewalt ein Wesensmerkmal des Irak sei, die Geschichte des Ummayyaden-Gouverneurs al-Hajjaj, der als Inkarnation des barbarischen Herrschers in der islamischen Geschichte gilt. Bei allem Hang zur Mystifizierung sollte man sich allerdings nüchtern fragen, wie aus einer vergleichsweise liberalen Gemeinschaft, die der Irak unter dem Patronat der Haschemiten einst war, eine offenkundig gewaltfixierte Gesellschaft entstehen konnte. Samir al-Khalil versucht in seinem 1989 erschienen Buch The Republic of Fear darauf zu antworten, indem er die These aufstellt, dass sich die Iraker mit den zur Zeit der Haschemitischen Monarchie von den Briten (*) oktroyierten staatlichen Institutionen nie hätten anfreunden können. Die Auffassung der britischen Mandatsmacht, eine Zwangsintegration der irakischen Ethnien und Konfessionen sei denkbar, fußte in der Tat auf einer gravierenden Fehlkalkulation: Die Spaltung zwischen Staat und Gesellschaft ließ sich dadurch keineswegs - wie gedacht - aufheben, sie wurde vertieft. Der Staat kanalisierte lediglich die vorhandenen Antagonismen, ohne sie abbauen oder gar überwinden zu können. Man glaubte, die implantierten Werte und Normen eines formalen parlamentarischen Systems hätten in den Jahrzehnten der Monarchie seit 1921 Wurzeln geschlagen, aber als die am Morgen des 14. Juli 1958 hinweg gefegt wurde, gerieten auch die Werte und Normen in den Sog des Umbruchs. Damit war die Büchse der Pandora geöffnet: Kommunisten, Nationalisten, autonomistische Kurden und ambitionierte Offiziere pflegten keinen Austausch von Werten, sondern von Gewalt. Paradoxer- oder bezeichnenderweise war es Saddam Husseins, der ab 1968/69 schon unter der Präsidentschaft Hassan al Bakrs diesen Exzess um den Preis beendete, dass ein Leviathan über das Land kam. Nach seiner endgültigen Machtübernahme 1979 trieb er die rivalisierenden Kräfte aus dem Land oder schaltete sie aus.Demokratie à la Thomas JeffersonVor etwa 600 Jahren hatte der nordafrikanische Gelehrte Ibn Khaldun, als er versuchte, die turbulenten Phänomen seiner Zeit theoretisch zu fassen, den Begriff der asabiya eingeführt, der sich mit "Gruppensolidarität" übersetzen lässt. Das bedeutete, eine Gruppe konnte die Macht erobern, weil ihre asabiya stärker war als die der anderen. Es kann nur darüber spekuliert werden, ob Saddam die Lehre Ibn Khalduns kennt - auf jeden Fall stützt er sich auf die asabiya seines Stammes und erhält sich so eine grundlegende Bedingung für die Stabilität seiner Macht.In Kenntnis eben dieser Umstände muss die von den USA für den Irak reklamierte "demokratischen Neuordnung" beurteilt werden. Zalmay Khalilzad, Irak-Beauftragter von Präsident Bush, hatte Ende 2002 erklärt, man wolle eine repräsentative Regierung zur Macht bringen. Der irakische Oppositionelle Kanan Makiya, der in einem Think Tank zur Konzipierung der "Neuordnung" saß, spricht dagegen vom Verrat an der irakischen Opposition, weil die Amerikaner letztlich den irakischen Staatsapparat selbst übernehmen wollten, das Ergebnis eines Krieges demnach lediglich die Entmachtung des Diktators sein werde.Der Irak zwischen Monarchie und Diktatur1958Nach der Ermordung von Feisal II. und eines Teils seiner Familie am 14. Juli übernimmt eine Gruppe von Offizieren unter General Kassem die Macht.1963Sturz von Kassem durch die panarabisch orientierte Baath-Partei unter Hassan al Bakr, die nach wenigen Monaten durch Marschall Aref, einen Nationalisten, entmachtet wird.1968Erneuter Umsturz, al Bakr wird Präsident und Generalsekretär der Baath-Partei, Saddam Hussein stellvertretender Parteichef. Er baut die Nationale Front aus Baath-Partei, Kommunistischer Partei und Kurdischer Demokratischer Partei auf, aus der die KP 1979 wieder austritt.1972Saddam Hussein setzt als Vizepräsident des Revolutionären Kommandorates die Nationalisierung der Ölwirtschaft durch und wird zur "Nummer Zwei" hinter dem Präsidenten.1979Saddam übernimmt nach dem gesundheitsbedingten Rücktritt von al Bakr das Amt des Staatspräsidenten und beginnt, sämtliche Gegenspieler auszuschalten.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.