270 Millionen Weg werden tagtäglich zurückgelegt, schrieb Jens Müller Bauseneik zum Auftakt unserer Mobilitätsserie in der Weihnachtsausgabe, ein Fünftel davon sind Wege zur Arbeit oder Ausbildung. Wer mobil ist, gilt als modern, flexibel und dynamisch. Insbesondere von Berufsanfängern wird ganz selbstverständlich erwartet, für das Unternehmen zu jeder Zeit und überall hin umzuziehen. Im folgenden Beitrag beschäftigt sich Linda Tidwell mit den sozialen und gesundheitlichen Folgen des modernen Nomadentums. Und in der kommenden Folge werden sich Anja Garms und Linda Tidwell mit der Verkehrsinfrastruktur befassen, die den neuen Arbeitsnomaden zur Verfügung stehen.
War in der Vergangenheit berufliche Mobilität hauptsächlich auf ei
werden tagtäglich zurückgelegt, schrieb Jens Müller Bauseneik zum Auftakt unserer Mobilitätsserie in der Weihnachtsausgabe, ein Fünftel davon sind Wege zur Arbeit oder Ausbildung. Wer mobil ist, gilt als modern, flexibel und dynamisch. Insbesondere von Berufsanfängern wird ganz selbstverständlich erwartet, für das Unternehmen zu jeder Zeit und überall hin umzuziehen. Im folgenden Beitrag beschäftigt sich Linda Tidwell mit den sozialen und gesundheitlichen Folgen des modernen Nomadentums. Und in der kommenden Folge werden sich Anja Garms und Linda Tidwell mit der Verkehrsinfrastruktur befassen, die den neuen Arbeitsnomaden zur Verfügung stehen.War in der Vergangenheit berufliche Mobilität hauptsXX-replace-me-XXX228;chlich auf einige wenige Berufsgruppen und auf die Chefetagen beschränkt, ist sie heute zu einer ständigen Herausforderung geworden. Mobilsein gilt als Zeichen des Erfolgs und der Zukunftsfähigkeit. Gleichzeitig wird Beständigkeit mit fehlendem Engagement und Perspektivlosigkeit gleichgesetzt. Sich rasch auf Veränderungen einzustellen, nicht zu fest an Bestehendem festzuhalten und offen für neue Entwicklungen zu sein, ist das Gebot der modernen Ökonomie.Wollen oder MüssenDiese in der Vergangenheit hervorgehobenen, durchaus positiven Seiten beruflicher Mobilität haben den Blick auf die negativen Begleitumstände für die Arbeitnehmer und ihre Familien verstellt. Dabei wirkt sich der Mobilitätsdruck nachhaltig auf die Lebensführung und auf das physische und psychische Wohlbefinden aus. Mobilität bringt Wechsel und Veränderungen mit sich - Stabilität geht verloren. Dauerhaftes Mobilsein löst den Menschen aus seinen sozialen Bindungen: Freunde und Familie sind plötzlich nicht mehr in unmittelbarer Nähe. Für viele Menschen ist gerade dieses soziale Netz sehr wichtig, denn es vermittelt das Gefühl von Geborgenheit, Zugehörigkeit und sozialer Identität.Häufig ist der Wechsel des Arbeitsortes nicht mit der Organisation des familiären Lebens zu vereinbaren. "Eine Frage ist natürlich auch immer, wie groß der gesellschaftliche Druck ist, sich bewegen zu müssen. Oftmals gilt es als chic, immer unterwegs zu sein - da gibt es ganz unterschiedliche Tendenzen", sagt Weert Canzler vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). "Wir können davon ausgehen, dass eine kleinere Gruppe von Menschen - und das ist die Minderheit - mobil wird, weil sie mobil werden will. Dann gibt es die zweite Gruppe von Menschen - und die ist wesentlich größer -, die mobil wird, weil sie mobil werden muss", ergänzt der Sozialwissenschaftler.Umziehen oder PendelnOb und wie ein Wechsel von Wohnort und Beruf von den einzelnen Betroffenen verkraftet wird, hängt aber auch sehr stark von ihrer Persönlichkeit ab. Von manch einem werde ein Wechsel als Herausforderung und Bereicherung verstanden, andere nehmen dieselbe Situation eher als Belastung wahr. "Die Vor- und Nachteile der Mobilität sind im Großen und Ganzen von der Mobilitätsform abhängig. Ein Wohnortwechsel stellt eine kurzfristig hohe Belastung dar. Nach einiger Zeit haben sich die meisten Menschen sozial gut integriert und dann gibt es keine nachteiligen Folgen mehr", erklärt der Mobilitätsforscher Norbert Schneider. Und dennoch scheuen sich nach einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg viele Menschen vor einem Umzug. Die Alternative: sie pendeln lieber. Doch unter dem ständigem Hin- und Herfahren leiden soziale Bindungen. "Fern- und Wochenendpendeln oder Fernbeziehungen verursachen Stress, und Stress verringert die Partnerzufriedenheit und erhöht das Trennungsrisiko. Außerdem wirkt sich Stress negativ auf die Gesundheit aus", so Schneider.Im internationalen Vergleich der führenden Industrienationen weisen die Deutschen eine mittlere Mobilitätsdynamik auf. Wenn es jedoch darum geht, von einem festen Wohnort aus zu pendeln, dann zeigen sie eine sehr große Bewegungsbereitschaft. Doch der sich gerade daraus ergebende chronische Zeitmangel des Pendlers ist belastend für Partner und Familien. "Müdigkeit und geistige Abwesenheit am Wochenende führen zu Entfremdung vom Partner und von den Kindern. Ebenso wirken sich Müdigkeit und Unzufriedenheit am Arbeitsplatz aus, der pendelnde Arbeitnehmer ist nicht voll leistungsfähig."Fernpendeln ist also ist häufig ein Ersatz für den angstbesetzten Umzug. "Deshalb wählen auch so viele Menschen eine Lebensform, die eigentlich viel schlimmer ist als ein Wohnortwechsel", erklärt Schneider. Verantwortlich dafür scheint auch das föderale System der Bundesrepublik Deutschland zu sein, denn aufgrund unterschiedlicher Schulsysteme und der Nicht-Anerkennung beruflicher Qualifikationen werden Wohnortwechsel zwischen den Bundesländern für Familien oftmals erschwert.In der von der Uni Mainz und dem Staatsinstitut für Familienforschung in Bamberg erarbeiteten Studie Berufsmobilität und Lebensform wurden berufsmobile und ortsfeste Personen zu ihrer persönlichen Situation befragt. Unterschieden werden fünf mobile Lebensformen: Fernpendler, die täglich längere Arbeitswege in Kauf nehmen; Umzugsmobile, das sind Paare, die an den neuen Arbeitsort gezogen sind; Wochenendpendler, die einen zweiten Haushalt am Wohnort des mobilen Partners haben; Varimobile, bei denen einer der Partner an wechselnden Orten beruflich tätig ist und Menschen, die in Fernbeziehungen leben und jeweils einen eigenen Haushalt führen.Die Untersuchung belegt, dass 69 Prozent aller mobilen Personen über psychische oder physische Belastungen klagen, die in direktem Zusammenhang mit ihrer Lebensform stehen. Berufspendler leiden in viel höherem Ausmaß an psychosomatischen Beschwerden wie etwa Kopfschmerzen, Ängsten, funktionellen Magen-Darm-Beschwerden und Bluthochdruck als Arbeitnehmer mit kurzem Arbeitsweg. Müdigkeit und Konzentrationsschwäche stehen bei vielen Pendlern auf der Tagesordnung. Aus Zeitmangel wird der Arztbesuch aufgeschoben oder gar nicht getätigt.Besonders oft berichten Wochenendpendler und Menschen, die in Fernbeziehungen, leben, vom Zwang zur Mobilität. Die berufliche Situation hemmt die Familienplanung, so dass beruflich mobile Menschen häufiger kinderlos bleiben als nicht mobile. Werden sie überhaupt Eltern, dann deutlich später. Nicht selten verzichtet die Partnerin eines berufsmobilen Mannes auf die eigene Karriere und widmet sich dem Haushalt und der Kindererziehung: während der Abwesenheit des Mannes fällt ihr automatisch die Rolle der allein erziehenden Mutter zu. Dann läuft es nach der alten Devise: Nur wenn Frauen ihre eigenen Berufspläne zurückstellen, ist für Männer das Modell Familie, Beruf und Mobilität vereinbar. Beruflich mobile Frauen bleiben in der Regel kinderlos.Öffentlicher StressWährend bis vor kurzem vor allem Stressreaktionen und Belastungen von Autopendlern im Mittelpunkt des Interesses standen, wendet sich die Forschung erst seit wenigen Jahren den Pendlern in öffentlichen Verkehrsmitteln zu. Auch Berufspendler, die ausschließlich auf den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) angewiesen seien, litten in einem viel höherem Ausmaß an psychosomatischen Störungen wie etwa Kopfschmerzen, Störungen der Sexualität, Magen-Darm-Beschwerden und Ängsten als Arbeitnehmer mit einem kurzen Arbeitsweg, erklärt Steffen Häfner, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin an der Forschungsstelle für Psychotherapie in Stuttgart. Ausschlaggebend ist dabei das Gedränge in Bus und Bahn, in denen eine Privatsphäre nicht existiert. Der Reisende ist gezwungen, die Nähe unterschiedlichster Mitreisender zu ertragen. Ausgeliefert den Gerüchen, Launen und Provokationen fremder Menschen, wird für manch einen die Bahnfahrt im Berufsverkehr zur Zerreißprobe. Allein schon die körperliche Nähe vieler Menschen ruft bei einigen Mitreisenden Unwohlsein und Schweißausbrüche hervor, so dass auf die Alternative Auto zurückgegriffen wird.Verkehrsübergreifende Konzepte gefragtDas Bundesministerium für Verkehr hat im Jahr 2002 eine Erhebung zum Verkehrsverhalten in allen Bundesländern unter dem Titel Mobilität in Deutschland durchgeführt. Dabei stellte sich unter anderem heraus, dass Mobilität und Einkommen direkt miteinander korrelieren: Ein höherer Lebensstandard ist verbunden mit mehr Aktivitäten außer Haus, für Freizeitaktivitäten werden größere Entfernungen überwunden. Dabei dominiert in der Regel das schnellere und flexiblere Auto.Diese räumlichen Beweglichkeit wird aber immer wichtiger, weil beruflich bedingte individuelle Mobilität die Ortsbindung von Gemeinschaften - Familie, Freundes- oder Kollegenkreis - auflöst. Damit verliert der Wohnort als Anknüpfungspunkt für soziale Beziehungen an Bedeutung. Mittlerweile wird auf andere Kommunikationskanäle zugegriffen, viele Menschen nutzen das Internet, um über Online-Chats zu kommunizieren und Kontakte zu knüpfen - mit steigender Tendenz. Gleichzeitig wird das Internet auch beruflich genutzt, um Arbeitsprozesse abzukürzen.Dass jedoch technische Entwicklungen, die die Arbeit oder den Konsum vom heimischen Schreibtisch aus unterstützen (Telearbeit, E-Commerce), den Zwang zur ständigen Bewegung hemmen werden, bezweifeln Fachleute. Das Gegenteil sei der Fall, denn die gesparte Zeit werde in neue Wege investiert. Um den täglichen Weg im öffentlichen Verkehr so angenehm wie möglich für den Reisenden zu gestalten, entwickeln Mobilitätsforscher fieberhaft verschiedene Ansätze. Die Aufmerksamkeit gilt nicht nur unterschiedlichen technischen Lösungen, sondern auch den individuellen Bedürfnissen und Wünschen der Fahrgäste. Erste richtungsweisende Angebote existieren bereits: Wer heute aus dem Zug steigt, kann sich mit dem gleichen Ticket mancherorts im Anschluss ein Auto oder ein Fahrrad ordern oder einfach den lokalen Nahverkehr nutzen. Die Zukunft liegt in verkehrsübergreifenden Konzepten und da, räumt Norbert Schneider ein, gebe es "noch einiges zu tun, denn der Mobilitätswille der Menschen wird weiter steigen."
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