Die Ukrainer kommen, die Moldawier gehen in Scharen
Moldau Während Kriegsflüchtlinge in Moldau aufgenommen werden, sind Armut, Korruption und Perspektivlosigkeit der Grund, dass junge, gut ausgebildete Menschen weiterhin auswandern
Odessa ist hier 60, Chişinău 140 Kilometer entfernt: der moldauische Grenzort Palanca am 26. Februar 2022
Foto: Gilles Bader/Le Pictorium/Imago Images
Und dann war auf einmal Krieg – jenseits der Grenze. Als Diana Simmons am 24. Februar in ihr Büro im Zentrum von Chişinău kommt, sieht sie die Kollegen weinen. Sie hört vom Angriff Russlands auf die Ukraine. Nach dem ersten Schock beginnt für sie und ihre Kolleginnen bei der Hilfsorganisation Concordia die Arbeit. Die 30-Jährige bringt ihre kleine Tochter zu den Großeltern und fährt zur ukrainischen Grenze. Die ersten Flüchtlinge überqueren bereits den Grenzübergang bei Palanca an der Mündung des Dnister. Für Simmons, die Ohrringe, Seidenschals und den Nachnamen ihres amerikanischen Ex-Mannes trägt und so flüssig Englisch spricht wie Rumänisch oder Russisch, ist es der erste Kriseneinsatz. Nie hätte
te sie damit gerechnet. Das war vor sechs Monaten.Seither flüchten Frauen und Kinder vor dem Krieg in die Republik Moldau, seither arbeitet Simmons auch an Wochenenden, und oft bis spät in die Nacht. Die Kontrolle zu behalten, stark zu sein, das sei schon immer ihre Rolle gewesen, erzählt sie. Das war schon im Kindesalter so, wenn sie ihre jüngeren Geschwister beruhigen musste, wenn wegen des Mangels an Geld wieder einmal das Licht ausging in der kleinen Wohnung.Bis zur SelbstaufopferungIm anfänglichen Kriegschaos hamsterte sie im Unterschied zu vielen ihrer Landsleute keine Lebensmittel, auch ihre Koffer standen nicht gepackt in der Ecke. Und doch: Sie habe sich bequeme Schuhe gekauft. „Damit ich schneller laufen kann, wenn es notwendig ist.“ In den ersten Tagen des Krieges seien viele Moldauer an die Grenze gefahren, um Menschen aus dem Nachbarland zu helfen. „Es war wie ein Fieber“, sagt Simmons. Bis heute würden viele ihre Wohnungen zur Verfügung stellen, auch wenn diese oft schon für die eigene Familie zu klein seien. Die Moldauer haben ihre Häuser und ihre Herzen geöffnet, meinte UN-Generalsekretär António Guterres bei seinem Besuch Anfang Mai. Mancher hier gehe bis zur Selbstaufopferung, auch wenn er selbst nicht viel habe, sagt Simmons. Sie selbst spricht seit Kriegsbeginn mit geflüchteten Frauen und traumatisierten Kindern. Sie hört, wie sehr sich Frauen um ihre Männer sorgen, von denen sie sich am Grenzübergang verabschieden mussten, und wie Kinder bei lauten Geräuschen zusammenzucken, weil alles klingt wie der Krieg zu Hause. Für die Hilfsorganisation schreibt Simmons deren Geschichten auf. Sie weiß: Von der Flucht zu erzählen, hilft das Erlebte zu verarbeiten, damit umzugehen, dass auf einmal alles anders ist, die Zukunft ungewiss. Wenn ihr die Erzählungen zu viel werden, dann sagt sie ihrer Chefin, dass sie raus muss, spazieren gehen. Und zwar zügig.Überall in Chişinău höre man Ukrainisch, meint Simmons. Im Park, im Bus, an den Supermarktkassen. Bis heute sind mehr als 550.000 Menschen vor dem Krieg in der Ukraine in die Republik Moldau geflüchtet. Geblieben sind gut 90.000 im ärmsten Land Europas, in dem jeder Vierte der 2,6 Millionen Einwohner unter der nationalen Armutsgrenze lebt. Die Republik hat damit weltweit pro Kopf die meisten Ukrainer aufgenommen.Tatsächlich kommen die Geflüchteten in ein Land, aus dem alle weggehen. Moldau hat eine stark schrumpfende Bevölkerung. Armut, Korruption, die fehlende Perspektive lassen junge, gut ausgebildete Menschen auswandern. Die meisten suchen ihr Glück und Arbeit in Russland, Rumänien oder Italien. Studien sagen voraus, dass die einheimische Bevölkerung bis 2035 auf zwei Millionen abgenommen haben wird, bezogen auf 1989 wäre damit die Einwohnerzahl halbiert. Auch zwei von Simmons’ Brüdern haben das Land verlassen, sie selbst wollte ebenfalls weggehen. Geblieben sei sie wegen ihrer Familie und weil ihr Kind in der Heimat aufwachsen sollte – und das, obwohl ihre eigene Jugend in Chişinău alles andere als rosig war. „Ich weiß, was Hunger ist. Und was kalte Füße sind. Unsere Schuhe waren nie gut genug. Wir mussten in schon von anderen gebrauchten Möbeln leben und hatten nur Geld für das immer gleiche Essen.“ Die kleine Diana musste beim Geldverdienen helfen. Mit ihrer Mutter, einer landesweit berühmten Sängerin und Komponistin, trat sie im Fernsehen auf. Jedes Mal habe sie große Angst gehabt vor einer Sendung. „Aber du durftest nicht weinen, du musstest auf die Bühne.“ Die Liebe zum Singen, zur Musik, sei ihr geblieben. Das gebe Kraft für den Alltag.Simmons studierte Psychologie und wurde Mutter einer Tochter, für die sie bald allein sorgte. Sie musste erst bei ihrer Großmutter wohnen und aß mittags oft nur Suppe, weil sie als Psychotherapeutin anfangs wenig verdiente. Heute hat sie zwei Jobs, damit es zum Leben reicht. Neben ihrer Arbeit für die Hilfsorganisation empfängt sie Patienten zu Therapiesitzungen. Viele kämen, um wegen des gleichen Traumas Hilfe zu finden: den Verlust der Eltern, die ins Ausland gingen. Die Kinder mussten dann bei Großeltern oder Pateneltern bleiben. Bis heute wachsen in Moldau Tausende Kinder als „Migrationswaisen“ auf, zermürbt zwischen der Sehnsucht nach den Eltern und der Enttäuschung, verlassen worden zu sein, so Simmons. Es gebe Eltern, die einfach weggehen, ohne sich zu verabschieden. Bittere Ironie: Viele ihrer Klienten würden sich die Therapie nur leisten können, weil die Eltern im Ausland arbeiteten.Den Krieg vor der HaustürWer zu Hause ausharrt, verdient im Monat im Schnitt umgerechnet 400 Euro, bezahlt aber für Lebensmittel und Treibstoff nicht so viel weniger als etwa in Österreich. Dazu komme, erklärt Simmons, dass viele Männer nicht mehr zum Arbeiten in die Ukraine oder nach Russland fahren können. Werden dadurch noch mehr Menschen das Land verlassen? Wenn sie in einem Monat so gut wie kein Geld verdienen können, fühlt es sich für sie an wie ein verlorener Monat.Seit Kriegsbeginn wischt auch Simmons ständig durch die News auf ihrem Smartphone. Wo rücken russische Truppen vor? Wo schlagen die Ukrainer zurück? Und was tut sich an der Grenze? Chişinău sieht sie seither mit anderen Augen. Käme der Krieg auch hierher, wie lange wäre dieses Haus dann noch da? „Niemand auf dieser Welt, kann mehr ernsthaft sagen, dass wir sicher sind.“ Als es in den Nachrichten hieß, Regierungsgebäude in Tiraspol, Hauptstadt der abtrünnigen Region Transnistrien, seien beschossen worden, wuchsen ihre Sorgen – auch wegen der Kollegen, die sich dort um Kinder und Alte kümmern. Doch ihre Chefin sagt: Wenn es einmal so weit ist, sind wir die Letzten, die gehen.Placeholder image-1So hat Simmons bis heute keine Koffer gepackt, aber längst Medikamente und nötige Reisedokumente zusammengetragen. Die kleine Tochter habe ihre Unruhe gespürt und sei selbst ängstlich geworden. „Aber dann haben wir Tee getrunken, und ich habe ihr gesagt, dass ich auf sie aufpassen werde – egal, was passiert.“Simmons erzählt, viele Ukrainerinnen würden für eine gewisse Zeit mit ihren Kindern zurückgehen. Sie wollten wissen, wie es ihren Familien ergeht, würden Verwandte besuchen und mehr Sachen holen. Gleichzeitig sei der Krieg für viele Moldauer schon normal geworden. Mehr als ein halbes Jahr nach dem Beginn der Kampfhandlungen sehe auch ihr Arbeitsalltag anders aus: Sie und ihre Kollegen seien heute wieder mehr für die eigenen Landsleute im Einsatz. Es gebe eine Teuerung, die jenseits der 30 Prozent liege und alle sehr hart treffe. Die Zahl der in Armut lebenden Menschen könne in diesem Land um weitere 250.000 steigen, warnen die Vereinten Nationen. Auch Menschen aus der Mittelschicht, wie sie selbst, würden oft nicht mehr wissen, wie sie ihre Ausgaben bewältigen sollten, sagt Simmons. Dahin sei ihre Hoffnung, irgendwie Geld zu sparen für die Tochter. Und ja, auch die Herzen der Moldauer würden angesichts der schwierigen Lage nicht mehr ganz so offen sein für die geflüchteten Nachbarn.Vor Kurzem besuchte Diana Simmons die Hochzeit eines Cousins in Italien. Sie schwärmte danach vom Lebensstandard der Verwandten, die dort in einer Fabrik Arbeit gefunden hätten. Einmal mehr spürte sie, was es heißt, sich für die Heimat zu entscheiden. „Wie leicht kann das Leben doch sein, wenn man nicht ständig ums Auskommen kämpfen und Opfer bringen muss“, sagt Simmons. Durchatmen lasse sie die Musik. Manchmal jedoch wisse sie nicht, wie lange sie ihren jetzigen Lebensrhythmus noch durchhalten könne. Es komme vor, dass sie eine Nacht lang in einer Bar tanze und danach wieder alles von vorn anfange – wie gewohnt und dort, wo sie zu Hause sei.Placeholder infobox-1
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