Monster-Blues

Kommentar Das Urteil im "Kannibalen-Prozess"

Achteinhalb Jahre Haft wegen Totschlags. Das Gerichtsurteil im Fall Armin Meiwes, des sogenannten "Kannibalen von Rotenburg", ist erstaunlich, und die öffentlichen Reaktionen darauf klangen verwirrt, verständnislos. Ein Menschenfresser soll kein Mörder sein? Dennoch blieb die große Empörung aus, vor allem wohl deshalb, weil dieser "Kannibale", paradox, in seiner Tat den unmenschlichen Fleischverzehr der eigenen Gattung mit dem Humanen verband: der freundlichen Akzeptanz des Willens einer anderen Person. Weil das Opfer sich nichts sehnlicher wünschte als gefressen zu werden, funktionierte der Monster-Effekt nur halbherzig, ein gezähmter Horror.

Sophistisch klang der Richterspruch, der sich zwischen "Mord" und "Tötung auf Verlangen" ansiedelt, doch er ist klug, und er trägt nicht nur dem beschriebenen Paradox Rechnung. Der Richterspruch geht zugleich von einer psychischen Störung Meiwes und von dessen Schuldfähigkeit aus, er entschließt sich, die sogenannte Perversion milde zu kriminalisieren, nicht zu pathologisieren - das ist, gemessen am gängigen Umgang mit devianten Vorlieben in der westlichen Zivilisation, das geringere Übel. Die angeblich "menschlichere" Behandlung der Perversion als Krankheit hat sich immer wieder auch als brutale Kontrolle erwiesen. Einen Kannibalen im Rahmen des Strafrechts zur Verantwortung zu ziehen heißt, ihn zu "normalisieren" - darin liegt der Affront des Urteils.

Man befinde sich im "Grenzbereich des Strafrechts" hieß es. Auch das ist ein guter Affront, eine nahezu asketische Einsicht nicht in Lücken, sondern in die Schranken des Gesetzes. Was am Kannibalismus-Fall "krankhaft", "abstoßend", "abartig" ist, gehört nicht in den Zugriff des Rechts und soll auch nicht hineingehören. Über das, was "normal" ist und was nicht, ist kein Urteil zu sprechen, und es wäre falsch, hier rechtliche "Nachbesserung" zu verlangen. Die eigentliche gesellschaftliche Frage scheint überhaupt weniger der konkreten Tat von Meiwes zu gelten, als dem Internet, jenem Kollektivgehirn mit seinen Chat-Foren, die mit dem Begehren, der Phantasie und ihrer Verwirklichung spielen und einiges von dem hochzuspülen scheinen, was wir sonst gesellschaftliches Unbewusstes nennen.

Dass im Fall Armin Meiwes die Mordkriterien "besondere Grausamkeit" und "Befriedigung des Geschlechtstriebes" nach Auffassung des Richters nicht vorliegen sollen, mag man eigenartig finden und seltsam auch den Satz, dass Schlachten nicht Morden sei - aber ist das in einer Gesellschaft von Fleischfressern eigentlich verwunderlich? Die Empörung gegen den Fürchte-dich-Kannibalen bleibt so oder so auf halber Strecke stecken. Die Staatsanwaltschaft allerdings wird Revision einlegen.


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