Moral

Linksbündig Zum Schaden den Spott

Die Rücktritte von Cem Özdemir und Gregor Gysi sind bedauerlich und ehrenwert zugleich. Bedauerlich sind sie, weil Özdemir und Gysi zu den wenigen Politikern gehören, die im Großen und Ganzen eine vernünftige Politik betrieben haben, die - jedenfalls bei Linken - auch über die Grenzen ihrer Parteien hinaus Respekt erheischten. Ehrenwert sind sie, weil hier unverzüglich die Konsequenzen aus Fehlverhalten gezogen wurden. Özdemir und Gysi haben moralisch gehandelt, nicht politisch. Das ist unüblich geworden. Gerade deshalb ist es umso ehrenwerter.
Wenn ein Kind lügt, wird es meist mit Liebesentzug bestraft. Wenn es seine Lüge gesteht, wird es, jedenfalls von guten Pädagogen, belohnt. Zumindest wird ihm verziehen. Stefan Zweig hat das in seiner Erzählung Angst thematisiert. Cem Özdemir und Gregor Gysi verdienten es, dass ihr ehrenwertes Verhalten honoriert würde. Das Paradox besteht darin, dass just jene, die sich für eine moralische Konsequenz entschieden haben, für eine Belohnung in Form einer Wiederwahl nicht mehr zur Verfügung stehen. Eine Delegation der Honorierung an die Parteien, denen sie angehören, käme möglicherweise just jenen zugute, die sich, anders als sie, zum Aussitzen entschlossen haben.
Aber diese Erwägungen sind wahrscheinlich nur theoretischer Natur. Die Wähler dürften gar nicht daran denken, die Rücktritte von Özdemir und Gysi zu honorieren. Ihre vergleichsweise geringfügigen Vergehen - darin ist Barbara Schweizerhof (Freitag 32, 2.8.2002) zuzustimmen - dürften weit nachhaltiger im öffentlichen Gedächtnis verankert sein als die daraus gezogenen Konsequenzen. Und sie dürfen keinen Bonus erwarten gegenüber jenen, die bei gleichen oder noch viel schlimmeren Verfehlungen einen Rücktritt nicht einmal erwogen haben.
Es wirkt sich nun aus, was eifrige Publizisten, darunter auffällig viele zu Staatsräson bekehrte ehemalige Linke, seit Jahren betreiben: die Diskreditierung der Moral zugunsten einer pragmatischen "Realpolitik". Wie effektiv diese Propaganda ist, konnte man bereits an den Reaktionen auf den Rücktritt Oskar Lafontaines bis weit in die SPD hinein erkennen. Offenbar wollte es kaum einem plausibel erscheinen, dass sich jemand aus der Politik zurückzieht, dass er auch bereit ist, auf alle damit verbundenen Privilegien zu verzichten, wenn er feststellen muss, dass er, was er für richtig hält, nicht durchsetzen kann, dass die geforderten Kompromisse die Substanz dessen zerstörten, was er politisch und eben auch moralisch zu vertreten wünscht.
Dass die Erhaltung von Machtpositionen Priorität hat gegenüber der Moral, in der CDU und der FDP immer schon, in der SPD seit längerem und bei den Grünen zunehmend die Norm, scheint auch von den Wählern mittlerweile akzeptiert zu werden. Deshalb kann, wer wie Özdemir und Gysi dagegen verstößt, allenfalls als liebenswert naiv, nicht aber als politisch honorabel bewertet werden.
Es ist schon wahr: Es gibt politische Situationen, deren Bewältigung einen moralischen Konflikt unausweichlich erscheinen lassen. Manchmal bieten sich alternative Entscheidungsmöglichkeiten an, die trotz ihrer Unvereinbarkeit jede für sich moralisch gerechtfertigt werden können. Gelegentlich ist eine Güterabwägung erforderlich, bei der verschiedene moralische Werte miteinander in Konkurrenz treten. Aber die völlige Dispensierung von Moral, der Verzicht auf verbindliche Wertmaßstäbe führt zu einer Orientierungslosigkeit und in der Folge zu einem Zynismus, der für die politische Kultur nur von Schaden sein kann.
So gesehen sind die Rücktritte von Cem Özdemir und Gregor Gysi zwar ein Schaden für die praktische Politik. Den (sozialisierten!) Schaden an der politischen Kultur aber richten jene an, die Moral für eine veraltete Kategorie halten. Deshalb wäre der "moralische Hochmut" zu verteidigen. Der "Druck der Verhältnisse" ist ein Problem. Aber "die sinkende Moral" ist auch eins. Man sollte nicht das eine gegen das andere ausspielen. Wie will man dem Mitmenschen, auf dessen "moralisches" Verhalten man im alltäglichen Zusammenleben vertraut, verständlich machen, dass er einen nicht belügen und betrügen soll, wenn man Politikern gestattet, den "Druck der Verhältnisse" als Entschuldigung für ihre "sinkende Moral" anzuführen? Barbara Schweizerhof hat Recht: die vergleichsweise größeren Vergehen müssen thematisiert werden. Glaubwürdig kann das nur, wer keinen Dreck am Stecken hat. Dann, wenn es nicht bloß der eigenen Reinwaschung dient, kann man auch auf dem Unterschied bestehen.

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