Zwölf Meter freier Fall, dann zerbirst die Tischplatte mit einem lauten Krachen auf dem Waldboden. Nacheinander fliegen Stühle, ein Teppich, ein Fahrrad hinterher. Wohnungsauflösung im Hambacher Wald. Eine ganze Kücheneinrichtung, Essensvorräte für mehrere Wochen, große Wasserkanister – das alles wird nicht mehr gebraucht in der Baumhaussiedlung „Gallien“, wenn das Sondereinsatzkommando der Polizei erst einmal den Bewohnern einen Platzverweis ausgesprochen hat.
Seit sechs Jahren halten Umweltaktivisten ein Waldstück nahe Köln besetzt, das dem Energiekonzern RWE gehört. Sie haben es sich gemütlich gemacht zwischen den Stieleichen und Hainbuchen, sie sehen sich als Wächter des uralten Waldes. Und sie haben ein politisches Ziel: „System change not climate change“ – „Wir bleiben bis zum Kohleausstieg“, so steht es in großen Lettern auf den Bannern, die sie überall im Hambacher Forst aufgehängt haben.
Doch plötzlich ging alles ganz schnell. Die nordrhein-westfälische Landesregierung ordnete die sofortige Räumung der Baumhäuser an, die Polizei riegelte die verbliebenen 200 Hektar Wald ab, außer Journalisten hatte niemand mehr Zutritt. Einen Tag später fielen im Norden der Siedlung „Gallien“ die ersten Bäume, um Platz für die Hebebühnen der Einsatzkräfte zu schaffen, die die Baumhäuser räumen sollen.
Bäumchen pflanzen
Wie emotional aufgeladen das Thema ist, zeigt sich an den Bildern der jungen Frau, die jetzt im Internet mit ihrer Geschichte berühmt wurde. Über zwei Millionen Aufrufe hat das Video, in dem die Aktivistin zwischen zwei bewaffneten Polizisten steht und erzählt, wie ihr Baumhaus zerstört, ihre Mitbewohner abgeführt wurden: „Die denken wahrscheinlich, sie hätten gewonnen. Aber sie können nicht gewinnen, weil sie den Wald genauso brauchen und diese Erde.“ Sie schluchzt laut auf und fährt fort: „Die verstehen einfach nicht, dass wir nicht für uns kämpfen, sondern für alle.“
Manche verstehen es schon. Spricht man mit den Polizisten im Dienst, geben viele zu, dass sie den Einsatz „moralisch fragwürdig“ finden. In Gedanken sind sie auf der Seite der friedlichen Demonstranten, die am Sonntag zu Tausenden ins Rheinland gekommen waren, um den Erhalt des Hambacher Forsts zu fordern. Ein Polizist kniete sich sogar auf den Boden und half zwei Frauen dabei, am Waldrand einen neuen Baum zu pflanzen.
Auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Nordrhein-Westfalen kritisierte die politische Anweisung zu einem der größten und teuersten Einsätze in der Geschichte der Region. Der Einsatz mit mehreren Tausend Polizisten wird Wochen dauern. Dadurch fehlen Kollegen bei der Bewältigung ihrer Alltagsaufgaben, kritisiert Sebastian Fiedler, Landesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter in Nordrhein-Westfalen: „Dem Land entstehen erhebliche Nachteile bei der Gewährleistung der Sicherheit für die Bevölkerung.“
Wie viel die Räumung das Land kosten wird, will ein Sprecher des Innenministeriums nicht sagen: „Solche Rechnungen stellen wir gar nicht an, das machen wir ja auch bei Fußballspielen nicht.“ Auch Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) verwies wiederholt darauf, dass der Konzern das Recht habe, ab Mitte Oktober die Hälfte seines Waldes abzuholzen. Die Rodungssaison dauert von Oktober bis März.
Den Klimaaktivisten geht es aber nicht mehr um die Rechtslage. Es geht ihnen nicht darum, ob das Oberlandesgericht aus Naturschutzgründen doch einen Rodungsstopp anordnen müsste. Es geht ihnen auch nicht darum, ob Polizei und Justiz sich besser auf die Neonazis von Chemnitz konzentrieren sollten, als Privateigentum zu schützen. All das lenkt vom Wesentlichen ab.
Es geht darum, welchen Stellenwert die Bundesregierung im Jahr 2018 der Klimapolitik beimisst. Es geht darum, ob die Landesregierung Politik für alle oder für die Kohlelobby macht. Es geht nicht einmal um den Wald an sich. Ganz in der Nähe, im Aachener Münsterwald, fielen bereits Tausende Bäume, um Platz zu machen für neue Windkraftanlagen. Das wiederum will die Landesregierung nun stoppen. Wald ist also nicht gleich Wald. Der Hambacher Forst gilt nicht ohne Grund als Symbol des Widerstands gegen die Klimabelastung durch Kohle.
Einmal Mond, immer Mond
Das sehen wohl auch die mehreren Hundert Menschen so, die an diesem heißen Spätsommersonntag dem Waldrand und den Polizeilinien ganz nah gekommen sind. Viele diskutieren mit den Beamten, denen es in der schweren Kampfmontur ordentlich warm sein muss: „Sie wissen doch, wie heiß der Sommer war“, das hört man wieder, und dass es hier um unser aller Zukunft geht. Sprechchöre wie „Es gibt ein Recht auf Dienstverweigerung“ erschallen immer wieder, einige haben dabei wohl Polizeihauptkommissar Hans Weide im Kopf: Der verweigerte 1975 den Befehl zur Räumung des Bauplatzes, auf dem das Atomkraftwerks Wyhl am Oberrhein entstehen sollte.
Die, die die Polizeilinie dann erstaunlich einfach überwinden, bilden einen bunten Haufen, jung und alt, Eltern, Kinder, Hundehalter. „Hasi, Du bleibst hier“, scherzt eine Mutter mit einem fast erwachsenen Sohn. „So ist das, wenn man mit den Eltern zur Demo geht“, quittiert der das. Kinder seien im Wald, schallt es aus einem Megafon, die Polizei solle bitte kein Pfefferspray einsetzen. Die kann einem in voller Kampfmontur schon Angst einjagen, steht aber meist nur irgendwie ratlos um die Überreste eines Baumhauses. Und hört zu, wie denen, deren Behausungen da oben noch intakt sind, ein vielstimmiges „Ihr seid Helden“ entgegenschallt.
Auf was sind wir bereit zu verzichten? Waldbesetzer wie die junge Frau aus dem Video leben den Verzicht vor, der für sie kein Verzicht ist: „Ich habe hier draußen viel mehr gelernt, als ich es in der Gesellschaft gekonnt hätte“, ruft sie, bevor das Video abbricht. Unweit ihres zerstörten Baumdorfes frisst sich der Tagebau jedes Jahr 200 Meter weiter in den Boden. Dort, wo früher auf 4.000 Hektar lebendiger Wald war, ist jetzt nur noch eine Mondlandschaft. Hier lässt sich die Zeit nicht zurückdrehen. Noch sind ein paar Besetzer da. Doch die Räumungen schreiten voran.
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