Moralisch fragwürdig: Intellektuelle wollen nur mit Gleichgesinnten streiten

Streitkultur Es ist salonfähig geworden, im Namen von Image und Moral einen passiven Angriffskrieg auf den anständigen Streit zu führen. Das ist gefährlich
Ausgabe 05/2023
Moralisch fragwürdig: Intellektuelle wollen nur mit Gleichgesinnten streiten

Illustration: Martina Paukova

Ist Ihnen auch schon passiert, dass ein potenzieller Gast schmollmundige Bedingungen stellt à la „Wenn du die oder den einlädst, komme ich nicht“? Im Meinungsressort ist das üblich geworden. Zumindest bei „umstrittenen“ Themen wird es immer mühsamer, unsere Streitgespräche mit starken Stimmen zu besetzen. Nicht etwa, weil die Meinungsinhaber nicht mehr gern in der Zeitung stehen wollen – aber eben nicht neben der oder dem. „Ich rede doch nicht mit Rassisten/Sexisten/Rechten!“, heißt es dann schnappatmig. Oder: „Der Person dürfen Sie keine Plattform geben!“

Wie sollen wir Menschen aus verschiedenen „Lagern“ an einen Tisch bekommen, damit sie sich konstruktiv, öffentlich und (wie) gedruckt streiten, wenn die Lagerkollerigen nur mit politisch korrektem, gleichsam DIN-genormtem Personal zusammenzutreffen in der Lage sich sehen?

Manche machen ihre mangelnde Bereitschaft zum streitbaren Diskurs sogar öffentlich – vermutlich auch, um Likes zu ernten. So weigert sich auf Twitter die Historikerin Franziska Davies, mit dem Politikwissenschaftler Johannes Varwick gesehen zu werden. Dazu copypastet sie ihre Antwort-Mail auf eine entsprechende Anfrage (der Freitag war’s nicht!): Varwick habe ihr ein totalitäres Weltbild bescheinigt, und – Skandal! – „kürzlich ein Interview mit Erich Vad in der Zeitschrift Emma empfohlen“. Es gibt heutzutage nicht nur Gedankenverbrechen und Kontaktschuld, sondern auch mediale No-Go-Areas – ein Seitenklick, ein falscher Link, ein unbedachtes Like kann Karrieren zerstören! Wenn der Inkriminierte sich auch noch, wie Varwick, gegen eine der aktuell von selbst ernannten Anstandsbewahrern favorisierten Meinungen (hier: Waffenlieferungen) ausspricht, ist er bei den neuen Gatekeepern des Sagbaren gänzlich unten durch: „nicht nur ein intellektuelles, sondern auch ein moralisches Versagen“, attestiert ihm Davies.

Das Verdikt geht ihr umso leichter von der Hand, als sie darauf verzichtet, dem anderen mit schlüssigen Argumenten seine Vergehen nachzuweisen. Stattdessen haut sie einen Tweet nach dem anderen heraus, der ihre eigene Meinung feiert. So offenbart sich nicht nur eine erschreckend geringe intellektuelle Belastbarkeit, sondern auch Hybris: „Ich möchte Herrn Varwick durch eine Debatte mit ihm nicht als seriösen Gesprächspartner legitimieren.“ Als hätte sie eine Vollmacht, andere Wissenschaftler zu legitimieren oder zu delegitimieren.

In der Komfortzone unter sich

Solche Twitterei wäre keiner Erwähnung wert, wäre sie nicht symptomatisch für die Debattenkultur. Im akademischen Milieu klafft eine Kompetenzlücke: Mit jedem Gefälligkeitsklick und jedem Shitstorm bildet sich die Streitfähigkeit rapide zurück. Mittlerweile reicht der Verdacht einer Nähe zur missliebigen Meinung, um sich der Debatte zu verweigern. Nur wenige sagen es direkt, viele verstecken sich hinter „terminlichen Gründen“ und „bitten um Verständnis“. Dieses Verständnis kommt uns langsam abhanden. Wenn die öffentliche Auseinandersetzung journalistisch unerfüllbare Bedingungen erfüllen soll, etwa die „Zusicherung“, dass der Freitag die Position des Kontrahenten als falsch „entlarve“ (und mithin die Streitenden nicht gleich behandle!), können wir Meinungsreporter einpacken – mangels Streit-Fachkräften.

Gerade unter jüngeren Linken will sich kaum noch eine oder einer die Hände schmutzig machen, bloß nicht gesehen werden mit diesem oder im selben Atemzug genannt werden mit jener. Statt sich mit Kontrahenten zusammen- und auseinanderzusetzen, bleibt man unter sich, in der Komfortzone. Und ansonsten fein säuberlich gespalten: die Guten ins linke Töpfchen, die Schlechten zu den Rechten. Verschanzt in der Burg der Rechtschaffenheit, stößt man alles dem eigenen Denken Fremde ab, eliminiert jedwedes Nichteigene mit unbarmherzigem Furor – und nennt es „Haltung“.

Als Vorwand für die Streitverweigerung dient nicht selten der pseudowissenschaftliche Verweis auf eine zu vermeidende „false balance“: Wenn Medien „Minderheitspositionen“ zu viel Beachtung schenkten, entstünde ein falscher Eindruck. Als bedeute Mehrheit gleich Wissen! Und als wären Leserinnen nicht fähig zum Selbstdenken – sondern ein verführbarer Mob, den man vor den falschen Gedanken schützen muss.

Wir denken anders. Wir meinen, dass man das Denken und Meinen niemandem abnehmen sollte. Und dass die öffentliche Debatte, auch über strittige Positionen und mit „umstrittenen“ Personen, unerlässlich für die Meinungsbildung in einer offenen Gesellschaft ist. Wir nehmen Anstoß daran, wie sehr es salonfähig geworden ist, im Namen von Image und Moral einen passiven Angriffskrieg auf den anständigen Streit zu führen, bei dem ein altehrwürdiges Format wie das Streitgespräch zum Kollateralschaden wird.

Und so lautet unsere Post an die Schar der Streitverweigernden: „Sehr geehrter Herr Sowieso, sehr geehrte Frau Sowieso, mit Bedauern lesen wir von Ihrer Absage zum Streitgespräch. Bitte überlegen Sie es sich noch mal! Ohne die Bereitschaft, andere mit einer anderen Meinung auszuhalten, verkümmert nicht nur der Journalismus, sondern mit ihm die Demokratie. Selbstgerechte Streitverweigerung schafft Safe Spaces für totalitäres Denken. Das können Sie nicht wollen – oder?“

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