Mördergrubenunglück

Wenn das Geld regiert, regiert es auch ganz unten Yang Lis illusionsloser Spielfilm "Blinder Schacht" porträtiert die dunklen Seiten der chinesischen Arbeitswelt

Eine Gesellschaft gerät in Bewegung, sie verändert sich, sie verändert sich rasend - all das sagt sich leicht. Es ist ein Blick von außen, der politisch auf Freiheit hofft und wirtschaftlich auf neue Märkte schielt. Was aber heißt Veränderung für die Menschen jener Gesellschaft, die sich bewegt?

Es bedeutet Bewegung, so binsenweis das klingen mag. In Yang Lis Film Blinder Schacht, der gerade in Deutschland angelaufen ist, kann man sehen, wie das aussieht. Das dort gezeigte China bietet wenig Möglichkeit zur Orientierung. China ist ein Irgendwo, ein Raum, der nicht definiert ist durch diese Stadt oder jene Sehenswürdigkeit. In Blinder Schacht herrscht die totale Austauschbarkeit der Orte, die nur grob charakterisiert werden: als Plätze der Arbeit (Zechen) und Plätze der Freizeit (Städte). Wobei Freizeit neben ein wenig Vergnügen (Bordell, Imbiss) vor allem die Zeit meint, in der nicht gearbeitet wird, weil Arbeit erst gesucht werden muss. Es spricht für die Lakonie von Yangs Film, dass die Plätze des Wohnens, die Orte des Herkommens nicht zu sehen sind. Wer sich in China bepackt mit Hab und Gut an den Bushaltestellen der improvisierten Arbeitsvermittlung herumdrückt, ist in einem schlichten Sinne verloren - für die Heimat. Der Kontakt zwischen den in die Welt des Überleben-Müssens Hinausgeworfenen und ihrem Zuhause beschränkt sich darauf, Geld zu überweisen und von einer besseren Zukunft zu träumen.

Song Jinming (Qiang Li) und Tang Zhaoyang (Shuangbao Wang) sind Spezialisten dieses modernen Nomadentums. Sie hadern nicht mit der Trennung von Frau und Kind und reihen sich ohne Scheu in das flexible Heer der anonymen Arbeitssuchenden. Zuwendung gibt es für 100 Yuan in jeder Stadt, und Nostalgie wird beim Karaoke-Singen befriedigt. Song setzt alle Hoffnungen in seinen Sohn, dessen Schulbesuch er sich vom Leben abspart, während der ältere Tang daran denkt, noch zu Lebzeiten in sein eigenes Glück zu investieren: "Wenn ich genügend Geld hätte, würde ich mir eine Zeche kaufen."

Beide haben die Lektion der neuen Zeit gelernt. Sie fügen sich nicht in die beschwerliche Arbeit in den zahllosen Zechen - in denen die Schlafräume mit Zeitung tapeziert werden, und es kein fließend warmes Wasser gibt -, sondern kalkulieren kühl Kosten und Nutzen. "In China mangelt es an allem, nur nicht an Menschen", sagt ein Zechenbesitzer. Er hat den Wert eines Menschenlebens in seinen Arbeitsverträgen schon taxiert: 30.000 Yuan für jeden zu Tode gekommenen Bergarbeiter. Darauf baut das "Geschäftsmodell" von Song und Tang, es besetzt die rechtsfreien Räume einer Arbeitsgesellschaft, in der Willkür und Korruption maßgebende Standards sind.

"Hast du Heimweh?", fragen sie gleich am Beginn einen arglosen Kollegen, den sie für die Arbeit unter Tage als Tangs Bruder ausgegeben haben, "wir bringen dich nach Hause." Dann schlagen sie ihn tot, reißen einen Pfeiler ein und kehren klagend und zeternd ans Tageslicht zurück. Die Schmierenkomödie zeigt Wirkung. Der aufgeregte Zechenbesitzer rechnet kurz: das entstehende Aufsehen, sollten die Verwandten ihren Toten heimholen, kann er sich nicht leisten. Und die Sicherheitsbehörde zu bestechen ("Die zu bewirten kostet mich 100.000 oder 250.000 Yuan") käme ihn teurer zu stehen, als Tangs Forderung nach 30.000 Yuan Schmerzensgeld zu erfüllen. So wird man einig und trennt sich - auch wenn es nicht den Anschein hat - in beiderseitigem Einvernehmen.

Blinder Schacht ist ein politisch kluger Film, weil er den "fiesen Ausbeutern da oben" nicht die "edlen Ausgebeuteten da unten" entgegensetzt. Vielmehr führt er vor, dass ein Menschenleben oben wie unten nicht mehr wert ist als 30.000 Yuan, wenn die Weltwahrnehmung erst einmal aus Ziffern von Geldbeträgen besteht. Blinder Schacht ist auch ein künstlerisch bestechender Film: Regisseur Yang Li spielt bei aller Einfachheit seiner Erzählweise geschickt mit den Emotionen des Zuschauers. Der überraschende Mord zu Beginn überwölbt nach dem Vorbild Hitchcocks den ganzen Film mit Spannung; denn anders als das nächste Opfer weiß der Betrachter, was dieses zu erwarten hat. Mit den Zweifeln, die Song befallen, weil er in dem erst 16-jährigen Yuan Fenming (Baoqiang Wang) jenen tüchtigen und talentierten Jungen erblickt, als den er sich seinen Sohn wünscht, dehnt Yang Li die Zwangsläufigkeit des Spannungsbogens. Am Ende gewinnt er ihr eine Pointe ab, ohne dass der Film deswegen an politischer Brisanz verlieren würde.


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Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

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