Mut zur Flucht nach vorn

Nachtrag zum Weltsozialforum 2007 Mehr politische Handlungsfähigkeit ist gefragt

Viele der fast 50.000 Teilnehmer mussten die Tage von Nairobi Ende Januar vorrangig als Bildungsveranstaltung empfinden, bei der sie eine Ahnung bekamen von den komplexen politischen, ökonomischen und kulturellen Verhältnissen in einem Teil Ostafrikas, von der extremen Armut vieler Menschen dieser Region. In der Vier-Millionen-Metropole leben etwa 2,5 Millionen Menschen in Slums - besonders ihnen war der letzte Veranstaltungstag gewidmet, als sich Zehntausende beim Marsch durch die Asyle des Überlebens und des Abstiegs beteiligten.

Wie steht es nun aber um die Perspektiven des Weltsozialforums? Es geht inzwischen weniger um die Identität der Bewegung, die längst gefunden scheint. Die Alternative - offener Raum zur Artikulation verschiedener Kämpfe oder robuster internationaler Akteur - wird nicht mehr so entschieden nach dem Entweder-Oder-Raster diskutiert wie noch vor Jahren. Trotz aller Richtungskämpfe zwischen den Polen globale Regulierung und keynesianische Politik einerseits und grundlegender gesellschaftlicher Wandel andererseits wurde das WSF zu einem weltweit anerkannten Ort, an dem alternative Strategien zu ihrem Recht kommen.

Die globalen sozialen Bewegungen - man darf nicht vergessen, in Nairobi traf sich nur ein kleiner Teil davon - haben maßgeblich dazu beigetragen, neoliberale Politik wie auch den mutmaßlich unvermeidlichen "Krieg gegen den Terror" zu delegitimieren. Walden Bello von der Süd-Denkfabrik Focus on the Global South sprach in der kenianischen Hauptstadt nicht zufällig von einem "Krieg um Legitimität", der im Fall des Irak von den USA gerade klar verloren werde - weitere Niederlagen zeichneten sich ab.

Gleichwohl wird deutlich: Die Ausstrahlung des Forums befindet sich noch immer in einem Stadium, das keinen wirklich spürbaren Eingriff in die weltweit vorherrschenden Machtverhältnisse erlaubt. Obwohl sich das in einzelnen Ländern - besonders in Lateinamerika - sehr viel anders darstellen kann. Die Debatten zum Verhältnis von sozialen Bewegungen hier und progressiven Regierungen dort waren in Nairobi weit weniger hitzig als in den vergangenen Jahren bei den Foren in Brasilien, Indien und Venezuela, als die Erfahrungen der sozialen Bewegungen mit der Bolivarischen Republik von Hugo Chávez oder den teils als inkonsequent empfundenen Sozialprogrammen der Regierung Lula auf Unmut und heftige Kritik stießen.

Wie auch immer - es bleibt als entscheidende Frage, die schon beim ersten WSF vor sechs Jahren im brasilianischen Porto Alegre nicht minder drängend war: Wie werden die vielen Bewegungen nicht nur in ihren lokalen und nationalen Kämpfen gestärkt? Wie entsteht so etwas wie transnationale Handlungsfähigkeit? Hier gibt es Teilerfolge etwa im Widerstand gegen gentechnisch verändertes Saatgut oder gegen Firmen wie Shell und andere mit ihren Sozialdumpings und Umweltsünden. Von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wurden die weltweiten Demonstration gegen den Irak-Krieg im Februar 2003, die Debatten um die EU-Verfassung oder das Aufbegehren in Nord- und Südamerika gegen die von den USA favorisierte, zwischenzeitlich aber gestundete kontinentale Freihandelszone. Nur ist das zu wenig.

Folglich wurde in Nairobi immer wieder gefragt, wie der Legitimationsverlust neoliberaler und imperialer Politik genutzt und um konkrete Alternativen ergänzt werden kann. Dabei steht außer Zweifel, dass es keineswegs reicht, nur ultraliberale Marktideologien zur Disposition zu stellen, sondern viel mehr an den Alltagssorgen und am Handlungsbedarf vieler Menschen anzuknüpfen, die sich nicht länger einem Gefühl der politischen Ohnmacht ausgeliefert sehen wollen. Das WSF ist geradezu prädestiniert, in dieser Hinsicht nach neuen, vor allem regionalen und lokalen Formen zu suchen, damit die Easyjet-Intelligenzija nicht eines Tages mehr oder weniger unter sich bleibt. Das WSF ist schließlich der Ort schlechthin, an dem wie in einem Brennglas - ohne Anspruch auf Repräsentation - emanzipatorisches Engagement gebündelt wird.

2008 soll es im Januar, parallel zum Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos, viele dezentrale Sozialforen unter dem Motto "Globale Allianzen für Alternativen" geben und im Jahr 2009 dann wieder das gewohnt große Treffen in Mexiko nahe der US-amerikanischen Grenze oder wiederum in Afrika. Für die Bewegungen in Deutschland gilt neben den anstehenden Aktionen gegen den G 8-Gipfel und die EU-Präsidentschaft das Sozialforum von Cottbus im Oktober 2007 als wichtiger Bezugspunkt.


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