Mut zur Selbstbehauptung

Alternativen zu Hartz IV 1.500 Euro Mindestmonatslohn unter Verrechnung der Grundsicherung, Aufbau von Selbsthilfegruppen und Verteidigung sozialstaatlicher Institutionen

"Es rettet uns kein höhres Wesen,
kein Gott, kein Kaiser noch Tribun.
Uns aus dem Elend zu erlösen,
können wir nur selber tun!
Leeres Wort, des Armen Rechte!
Leeres Wort: des Reichen Pflicht!
Unmündig nennt man uns und Knechte
Duldet die Schmach nun länger nicht!"

(Die Internationale. Im Juni 1871 gedichtet von Eugène Pottiers)

Wut verstellt den Blick auf das, was unsere Not wendet. Der Wütende stürzt auf die Straße und verrennt sich. Die Not aber bleibt. Selbstbehauptung beginnt hingegen mit Selbstbesinnung, zunächst und vor allem über die eigene Situation, die für Einkommensarme trostlos ist. Ob weiblich oder männlich, ob erwerbstätig oder erwerbslos, ob erwerbsfähig oder nicht, ob jung oder alt, ob eingeboren oder zugewandert - die Gestalt des Einkommensarmen, der seine Lage erkannt hat, sieht sich in einer Situation umfassender politischer Verlassenheit. Das Walten der globalen Kapitalverwertungsmaschine widerfährt ihm ohne Schutz und Schirm.

Als Verlassener und Ausgesetzter kann er nicht aus eigener Kraft leben. Er lebt landlos und ohne Produktionsmittel. Die exzessive Arbeitsteilung hat ihn seiner Fähigkeiten beraubt. Stress und Flexibilitätsdiktat zerstören selbst Verwandtschaft, Nachbarschaft und Bekanntschaft, die gewachsenen Selbsthilfe-Netzwerke, deren er bedarf. Als Entlassener ist er zum Überleben in Armut unfähig. Als Armutsunfähiger ist der Einkommensarme umfassend staatsbedürftig. Er begreift nicht, dass ihn der Staat, dem er sein Leben anvertraut hat, in die Armut stößt. Er erstarrt im vergeblichen Warten auf die Wiederkehr der staatlichen Fürsorge.

Nicht die Hand abschlagen, die das Überleben sichert

Der Einkommensarme, der sich als Verlassener, Ausgesetzter, Armutsunfähiger und Staatsbedürftiger zur Selbstbehauptung entschließt, konzentriert seine gesamte geringe Kraft auf das, was ihm weggenommen wurde. Als Vereinzelter geht er dabei unter. Die Gruppe aber, die er schafft, muss alles Verlorene in sich vereinigen: Sie muss seine politische Interessengemeinschaft sein, seine Gewerkschaft, sein Träger von Zuverdienst und Gemeinwohlarbeit, sein Ort gegenseitiger Hilfe.

All diese Zwecke strebt er in einer einzigen Organisation an. Der Einkommensarme, der versucht, sich von Sonderbehandlung und zwingender Not zu erlösen, erkennt in den Ämtern, die für Mitwelt und Umwelt Sorge tragen, seine Verbündeten. Er wird nicht die Hand abschlagen, die ihm die Überreste des Gemeinwohls organisiert und ihm seine Grundsicherung gibt. Er wird sie vor dem Zugriff der Kapitalverwertungsmaschine schützen. Er wird zu verhindern suchen, dass blind-wütige Menschen sozialstaatliche Restgebilde (wie JobCenter und Agenturen für Arbeit) belagern und zerstören.

Der Einkommensarme studiert das Gesetz, das ihn in die Armut zwingt. Das Gesetz sagt: "Du sollst ein Leben aus eigener Kraft führen wollen." Der Einkommensarme erkennt hierin sein eigenes Wollen und antwortet: "Ja, ich will aus eigener Kraft leben. Du sollst mir helfen, dieses Leben zu führen." Mit Abscheu erkennt er, dass dasselbe Gesetz und seine Ausführungsbestimmungen eben dieses Leben aus eigener Kraft verhindern.

Bündnisse suchen, zwischen den Working poor und allen Erwerbslosen

Der Einkommensarme weiß, dass er nur leben kann, wenn sich Institutionen, in denen das Gemeinwohl anwesend ist, hinter ihn stellen. Ihn ängstigt, dass die Verwertungs-Logik ihn irgendwann sterben lässt, weil er in der gesellschaftlichen Bilanz als bloßer Kostenfaktor erscheint. Deshalb trachtet er danach, die Orientierung am Gemeinwohl zur Leitnorm des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu machen. Er strebt an, dass jede Arbeit in gemeinnützige verwandelt wird. Warum sollten Computer nur unter dem Gesichtspunkt der Steigerung der Profitrate gebaut werden können?

Weil die Arbeit für das allgemeine Wohl sein Eigenwohl sichert, schützt der Einkommensarme die Institutionen, die sie tragen. Deshalb wendet er sich von allen Kräften ab, die das Aufblühen von Gemeinwohlarbeit behindern oder boykottieren wollen. Der Einkommensarme lehnt destruktiven und blinden Aktionismus ab. Er will sein Dasein nicht auf kriminelle Weise sichern. Er raubt weder Geschäfte aus noch belagert oder beschädigt er JobCenter. Solange es irgendwie geht, will er legal leben. Nur bei unmittelbarer Gefährdung seines Lebens erklärt er seinen Ausnahmezustand und entschließt sich zum legitimen Mundraub, denn Not kennt kein Gebot.

Der Einkommensarme festigt, wo er kann, das Bündnis zwischen Working Poor und allen Abteilungen der Erwerbslosen. Als verbindende Klammer will er beides: die rechtlich-tarifliche Gleichstellung und einen gesetzlich garantierten existenzsichernden Mindestlohn. Dabei erscheint ihm die Forderung einiger Gewerkschaften nach 1.500 Euro Bruttolohn als wirklichkeitsnah. Bei einer 38,5-Stunden-Woche ergäbe sich ein Mindeststundenlohn von brutto etwa neun Euro.

Um der Einheit mit den Working Poor willen verrechnen die von Hartz IV Betroffenen die Leistungen, die sie bekommen, mit diesem Mindestlohn. Gegenwärtig addiert sich die Grundsicherung für Ein-Personen-Haushalte auf 850 bis 865 Euro (Übernahme von durchschnittlich 300 Euro Wohn- und Heizungskosten, 331 beziehungsweise 345 Euro Arbeitslosengeld II und circa 220 Euro Sozialversicherungsbeiträge). Der Mindeststundenlohn von brutto neun Euro wäre somit bei ALG II-BezieherInnen in Höhe von etwa 5,30 Euro über die Brutto-Grundsicherung abgedeckt. Der zusätzliche und anrechnungsfreie Brutto-Stundenlohn sollte demnach 3,70 Euro betragen. Für die erwerbsunfähigen, kranken und alten Einkommensarmen dagegen muss der Eckregelsatz von 345 Euro (West) auf 500 erhöht werden.

Auf der Ebene des Rechts steht die Abschaffung jeglicher Sonderbehandlung der Einkommensarmen im Zentrum der Forderungen. Der Einkommensarme will, dass sämtliche Verhandlungen von Selbsthilfe- und Interessengemeinschaften der Einkommensarmen geführt werden. Sie formulieren ihre Interessen in Eigenregie, wobei in der Situation der "Großen Schwäche" pragmatische Kompromisse vonnöten sind. Der Einkommensarme verfolgt als Nahziel die Vereinigung von Menschen und Gruppen, die den Mut haben, sich selbst zu behaupten. Ein Forum "Perspektiven und Selbstbehauptungsformen der Einkommensarmen" wäre vielleicht der geeignete Ort. Wer ein solches Forum mit auf den Weg bringen will, möge sich melden - mit Kraft und Leidenschaft.

Wolfgang Ratzel ist Ansprechpartner der "Selbsthilfegruppe der Geringverdienenden und Erwerbslosen in Berlin-Pankow" und des "Forums Neue BioPolitik"

Kontakt: selbstbehauptung@arcor.de oder unter der Postadresse: Pol der Sorge, Postfach 58 06 63, 10415 Berlin


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