Von Pontius Pilatus, dem Statthalter römischer Macht, der einst das Todesurteil über einen gewissen Jesus von Nazareth legitimierte, ist ein schauderhaftes Ende überliefert. Als Exilant in der Innerschweiz, so berichtet eine der zahlreichen Pilatussagen, soll er Suizid begangen haben, indem er sich in den Vierwaldstätter See stürzte. Dieses Zeichen des Unglücks hat sich in die Geschichte des nach Pilatus benannten Berges eingeschrieben, den die in Rom lebende Schriftstellerin Christina Viragh als Schauplatz ihres vierten Romans gewählt hat. An einem Oktobertag verschwindet hier die Protagonistin des Buches auf unerklärliche Weise »unterhalb der Granitzinnen des Pilatus«, nachdem sie mit ihrer Tochter Jolan zu einem seltsam ziellosen Bergaus
ausflug aufgebrochen ist. Im Zusammenhang dieses erzählperspektivisch und handlungslogisch vielfach verwinkelten Romans von einem »Schauplatz« zu sprechen, ist indes ein Euphemismus. Denn wenn es hier einen Schauplatz gibt, dann ist es die höchst instabile memoria, die nach allen Richtungen hin wuchernde Erinnerung der Romanfiguren. Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung, ist von Christina Viragh gewissermaßen polytheistisch domestiziert worden - was bleibt, sind eine Vielzahl konkurrierenderer Erinnerungs-Konzepte, die alle ihre Partial-Wahrheiten für sich reklamieren. »Man wird immer daran denken müssen«, heißt es an einer Stelle, »dass der Dichter sagt, Erinnerungen seien die Verwerfungen der Wirklichkeit.« Es gibt in Pilatus nur eine inhomogene Erinnerung höchst inkonsistenter Subjekte - eine Erinnerung, die fortwährend dekonstruiert wird, durchkreuzt von konkurrierenden, sich widersprechenden Stimmen, was sich im Roman als fortwährender Wechsel der Erzählperspektive niederschlägt.In einem Interview hat Christina Viragh einmal von Erinnerung als einem Mosaik gesprochen, das fortwährend zerfällt und in den einzelnen Splittern und Segmenten immer auch fragwürdige Teil-Wahrheiten aufleuchten lässt. Im Roman selbst begibt sich zunächst eine nur mit dem Kürzel »K.« bezeichnete Erzählerin auf Spurensuche nach ihrer auf rätselhafte Weise verschwundenen Mutter: »Die Frau, die ich seit einiger Zeit nicht mehr Mutter nenne, steht auf einer flachen, mit kurzem, weichem Gras bewachsenen Bergwiese unterhalb der Granitzinnen des Pilatus und vergisst ihre ältere Tochter Jolan im Wald.« Schon dieser erste Satz des Romans, der die Urszene einer Familientragödie bezeichnet, steht auf einem schwankenden Fundament. Denn was als sicherer Tatsachenbericht auftritt, erweist sich bald als sehr unsichere narrative Ausgangs-Hypothese. Die Ich-Erzählerin, die hier die Vorgeschichte des Verschwindens der Mutter offenbaren will, ist als Zeugin der innerfamiliären Anklage selbst eine unsichere Kantonistin. K.s Version der Wahrheit wird alsbald dementiert durch die Aufzeichnungen der Schwester Jolan und die gelegentlich eingestreuten Notizen der Mutter. Eine Behauptung wirft die nächste über den Haufen, jede Spekulation wird sofort wieder dementiert und durch neue Konstruktionen der Wirklichkeit ersetzt. Wie es keine verlässliche Erinnerung gibt, so werden auch ein einheitliches, konsistentes Ich und eine fixierbare Identität in Frage gestellt. Das Erzählen zielt bei Christina Viragh immer auf die kunstvolle Verwirrung oder Auflösung der Identität. Erlebnisbericht und Phantasmagorie, Wahrnehmung und Halluzination gehen bei ihren Heldinnen unmerklich ineinander über. Die Unverlässlichkeit der verschiedenen Erinnerungsvermögen zeigt sich auch in den glossolalischen Entrückungen Jolans und den partiellen Gedächtnisverlusten K.s . Jolan verliert sich mitunter in ein aus spontanen Reimen assoziativ voran getriebenes Sprechen (»Reim ist Keim«), ebenso wie K. gerät sie mitunter in Absenzen und in somnambule, traumverlorene Zustände.So heillos zerstritten die Erinnerungs-Konzepte einander gegenüber treten, so feindselig begegnen sich auch die beiden unehelich geborenen Schwestern K. und Jolan, die für das Verschwinden ihrer Mutter extrem gegensätzliche Versionen anbieten. »Die Dinge haben eine Tendenz, aus der Form zu schnappen, die man ihnen geben will.« Mit solchen Reflexionen verweist Christina Viragh auf die dezidiert nicht-lineare Struktur ihrer Epik. Erst ganz allmählich lassen sich aus der mäandrierenden Erzählbewegung: aus den häufig eingeflochtenen Sagen und Chroniken, aus nachgetragenen Familien-Episoden, aus landschaftsgeschichtlichen Reflexionen, verbissenen Mail-Dialogen der Schwestern und den hinterlassenen Notizen der Mutter die Grundmuster einer innerfamiliären Traumatisierung heraus präparieren. Als Objekt einer abgrundtiefen Hassliebe tritt die Figur des Vaters auf, der Gelegenheits-Regisseur Paul, der nach der eigensüchtigen Beziehung mit der Mutter eine Affäre mit der Stieftochter beginnt. Die um die Definitionsmacht ringende Erzählerin K. buhlt zudem in heimlicher Konkurrenz mit der Schwester Jolan um die Gunst eines Mannes.So entspinnt sich auf verschlungenen erzählerischen Wegen die alte Geschichte um Liebe und Verrat, um die Infamie des Liebesbetrugs und um den Schmerz des Verlassenwerdens. Fast alle Figuren sind seelisch gebrochene und zugleich gegen ihr Unglück aufbegehrende Helden des Scheiterns. Denn was auch immer sie im innerfamiliären Versteckspiel um Liebe und Glück unternehmen, sie sehen sich stets in aporetische Situationen verstrickt. Die Mutter Lia ist dabei als Abwesende das Zentrum des Begehrens, die Leerstelle, die alle Energien und Affekte der Figuren in sich aufsaugt.Es ist nicht zum ersten Mal ein autobiographischer Stoff, den Christina Viragh in einen Roman transformiert. 1956 hatte die in Budapest geborene Autorin gemeinsam mit ihrer Familie ihre Heimatstadt verlassen müssen, 1960 gelangte sie schließlich nach Luzern. Zwischen Budapest und Luzern oszillieren auch die Phantasmagorien ihrer Romanfiguren. Aber alles wird in diesem subtil sich sur-realisierenden Roman in unvertraute Szenerien verwandelt, eine auf Wiedererkennbarkeit zielende Einfühlung in Handlung und Figuren ist nicht möglich.Schon ihren vorangegangen Roman Mutters Buch (1997) hatte Christina Viragh als erzählerischen Versuch über eine familiäre Schicksalsgemeinschaft angelegt, und zwar mit dem exakt identischen Romanpersonal. Damals erzählte die Tochter Jolan über ihre Mutter Lia, und auch die Großtanten aus Budapest und die schwierige Haushälterin Irene Franz bevölkerten schon das unsichere Erzähl-Terrain. »Ich schreibe immer das gleiche Buch«, hat Viragh einmal bekannt. Aber ihr neuer Roman hat die selbstreferentiellen Spiegelungen, motivischen Doppelungen und raffinierten Denkspiele zum Thema weiter verfeinert. Das Verschwinden der Mutter spiegelt sich in der zentral zitierten Sage von zwei Wanderern, die im November 1780 von Meggen und Luzern wanderten und vor der Stadtmauer auf rätselhafte Weise verschwanden. Als Wiedergänger und Untote geistern sie durch weitere Sagen, so wie die verschwundene Lia in Pilatus in den Phantasmagorien der Figuren wiederkehrt. Zu den faszinierenden Aspekten dieses ebenso kunstvollen wie schwierig zu lesenden Romans gehört die Verflechtung alter Sagenstoffe mit den Erinnerungsströmen der Romangestalten. Das sind vor allem Szenen, in denen etwas außer Kontrolle gerät, Bilder, in denen eine überscharfe Wahrnehmung jedes Realitätsprinzip außer Kraft setzt. Immer wieder verfallen die Heldinnen fetischistischen Objekten, wie Puppen, Masken oder Kleiderstoffe, was die Phantastik des Romans noch intensiviert. Wenn Jolan in eine Gletschermühle hinab steigt und kaum noch zur Erdoberfläche zurück kommt, wenn K. von der Hadeswanderung durch ein Sonnengrab berichtet, dann erreicht Christina Viraghs Prosa eine außerordentliche Suggestivität. Rettung kommt für die Figuren ausschließlich vom unablässigen Schreiben, das all die Wiedergänger, Untoten und Halluzinationen bannen soll. Aber auch hier lauert Gefahr: »Ich muß weiterschreiben, weil mir schwindlig wird, wenn ich mich hinlege oder stillsitze ... Es ist mir auch beim Schreiben schwindlig ...«Christina Viragh: Pilatus. Roman. Ammann Verlag, Zürich 2003, 236 S., 18,90. EUR
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