>Bereits länger wartete man in der britischen Labour Party auf den Bericht der Gleichstellungs- und Menschenrechtskommission, der die Ausmaße des Antisemitismus in den eigenen Reihen bewerten sollte. Gerade der frühere Parteivorsitzende, Jeremy Corbyn, war immer wieder in die Kritik geraten, unter seiner Führung Antisemitismus in der Partei nicht stark genug bekämpft, ihn vielleicht gar befördert zu haben. In der Parteirechten erwartete man von dem Bericht ein vernichtendes Urteil gegen Corbyns Führung.
Der Bericht wies dabei jedoch nur das vorher bereits Gewusste aus: dass die Strukturen zur Bekämpfung von Antisemitismus in der Partei zu schwach ausgebildet seien und man energischer gegen antisemitische Positionen hätte vorgehen müssen. Im Fall des ehemaligen Bürgermeisters Ken Livingstone etwa dauerte das Disziplinarverfahren zu lang. Jeremy Corbyn gestand daraufhin öffentlich in einem Statement ein, dass er schneller und effektiver gegen jeglichen Verdacht hätte agieren müssen. Er entschuldigte sich dafür bei den jüdischen Labour-Mitgliedern. Dennoch wurde er noch am selben Nachmittag von der Partei und seinem Mandat im Unterhaus suspendiert.
Die politische Farce besteht nun darin, dass er von der neuen Parteiführung unter Keir Starmer nicht etwa beschuldigt worden war, sich antisemitisch geäußert zu haben, sondern dafür suspendiert wurde, sich überhaupt in einem Statement zu dem Bericht geäußert zu haben. Dabei erlaubt es ihm die Kommission ausdrücklich, zum Ausmaß des Problems selbst Stellung zu beziehen. Der politische Knackpunkt für die neue Parteiführung ist aber ein ganz anderer: In seiner Reaktion erwähnte Corbyn nämlich auch, dass das Problem sowohl vom politischen Gegner, als auch innerparteilich und von den Medien übertrieben dargestellt worden war.
Blockierer nicht abgesetzt
Corbyns Vorwurf gegen die eigene Partei mag hart klingen, doch tatsächlich wurden im Frühjahr diesen Jahres unter den sogenannten Labour Leaks Absprachen in Kreisen des rechten Flügels in der Parteiführung bekannt, die den eigenen Wahlkampf 2017 torpedieren wollten. Man wollte eher eine Tory-Regierung unter Boris Johnson riskieren, als einen Linken wie Jeremy Corbyn zum Premierminister zu machen. Der Report machte deutlich, wie stark die innerparteiliche Gegnerschaft war. Auch in Bezug auf die Antisemitismus-Vorwürfe zeigten die Leaks, dass es wenige waren, die Hunderten Beschwerden von Mitgliedern über Antisemitismus mutmaßlich bewusst nicht nachgegangen sind.
Sollte man Corbyn einen Vorwurf machen, dann hauptsächlich diesen, die innerparteilichen Blockierer an jenen Schaltstellen nicht schneller abgesetzt zu haben. Erst mit der Einsetzung von Jennie Formby als Generalsekretärin 2018 wurden diese lahmen Strukturen effektiver. Zu spät, um die Vorwürfe aus der Welt zu schaffen.
Denn trotz dieser Intervention war die Kampagne gegen Corbyn nicht mehr aufzuhalten. Die Berichterstattung über Antisemitismus bei Labour nahm zuweilen so große Ausmaße an, dass es streckenweise alles andere dominierte. Das Problem wurde dabei in der Breite als viel größer eingeschätzt, als es tatsächlich war. Eine Umfrage aus 2019 ergab, dass die Briten davon ausgingen, dass ein Drittel der Labour-Mitglieder antisemitische Einstellungen hätte, was etwa 200.000 Mitgliedern entspricht. In Wahrheit handelte es sich aber um etwa 0,3 Prozent der Mitgliedschaft, also rund 2.000 Mitglieder. Niemand würde bestreiten, dass es sich nicht trotzdem um ein real existierendes Problem in der Partei handelt. Jeremy Corbyn selbst sagte in seinem Statement zu dem Bericht, dass jedes Mitglied mit antisemitischen Ansichten eines zu viel sei.
Genauso richtig ist es aber auch, dass die Tragweite des Problems damit massiv überschätzt wurde. Darüber hinaus wurde es politisch tatsächlich nicht nur von den Gegnern, sondern auch in den eigenen Reihen dazu benutzt, um Corbyns Vorsitz zu torpedieren. Schon zu dessen überraschender Wahl 2015 warnte der frühere Premier Tony Blair davor, diesen "linken Schlafwandler" zuzulassen. Corbyns Gegner insbesondere in der Fraktion, die immer noch von Blairites besetzt wurde, warteten förmlich auf Fehltritte, um sie anschließend politisch zu nutzen und wieder an die Macht zu kommen. Keir Starmer beteuerte zwar, dass er eine Einheit für die Partei herstellen wolle, doch Corbyn zu suspendieren ist eine klare Kampfansage gegen den linken Flügel.
Zurück zu den Wurzeln
Fakt ist, dass es keinen Grund dafür gab, Jeremy Corbyn zu suspendieren. Seine Reaktion auf den Bericht ist ebenso nüchtern wie der Bericht selbst, der Rauswurf dagegen vollkommen übertrieben. Es gibt eindeutig das Ziel, die Linke zu schwächen und die Partei auf den Zustand vor Corbyns Führung zurückzuführen. Die Antisemitismusvorwürfe waren für dieses Ziel ein gefundenes Fressen für die Parteirechte.
Was sie mit der Suspendierung verursachen, ist eine massive Austrittswelle von Mitgliedern, die gerade unter Corbyn und mit Hoffnung auf Veränderung eingetreten waren. Im ersten Jahr seines Vorsitzes traten beachtliche 180.000 neue Mitglieder ein – vor allem junge Menschen. Der Linksschwenk und die Lebensenergie, die seitdem von der Labour Party ausging, bleibt in Europa beispielhaft. Keine andere sozialdemokratische Partei vermochte es in dieser Weise, zu den eigenen Wurzeln zurückzukehren und damit große Massen zu begeistern. Jeremy Corbyn repräsentiert diese Wurzeln von sozialer Gerechtigkeit, internationaler Solidarität und Frieden wie kaum ein anderer. Umso abstruser ist die Entscheidung, diesen Mann aus der Partei zu werfen.
Es scheint – und darin mag auch eine Analogie zur deutschen Sozialdemokratie liegen –, als dass der rechte Parteiflügel nur auf seine Chance gewartet hat, den unliebsamen Linken wieder loszuwerden. Sie nehmen billigend in Kauf, dass Teile der Parteilinken nun wieder wegbrechen. Wie der kürzlich verstorbene Anthropologe David Graeber noch feststellte, würde aber gerade eine aufrechte, linke Labour Party den jüdischen Menschen in Großbritannien am meisten helfen. Eine solidarische Gesellschaft schützt sie mehr als ein machtpolitisches Ausschlussverfahren.
Kommentare 8
Ein guter Beitrag, der auch die Hintergründe des Rauswurfs von Corbyn zu klären versucht, was im deutschen Mainstream natürlich nicht geschieht.
Es ist schon mehr als erstaunlich, dass Corbyns Rauswurf vor allem von denjenigen betrieben wurde, die mein Problem damit hatten, auf Grund einer Lüge einen Krieg gegen den Irak zu beginnen, der zigtausende Menschenleben forderte.
Und die SPD? Sie hat keinen Corbyn, sondern nur noch die Konkursverwalter des Schröderismus. Da lohnt es sich, den Kommentar von Nils Schmid zur Wahl Corbyns zu lesen, in dem sich das ganze Debakel der SPD spiegelt.
»Schon zu dessen überraschender Wahl 2015 warnte der frühere Premier Tony Blair davor, diesen "linken Schlafwandler" zuzulassen. Corbyns Gegner insbesondere in der Fraktion, die immer noch von Blairites besetzt wurde, warteten förmlich auf Fehltritte, …«
Lafontaine auf Facebook
»Labour-Party will Jeremy Corbyn rauswerfen
Die traditionsreiche britische Partei wird von den Anhängern Tonys Blairs weiter zerstört
Die Labour-Party will Jeremy Corbyn rauswerfen, den Mann, der der Partei neues Leben eingehaucht und hervorragende Wahlergebnisse beschert hat (2017: 40,3 Prozent/12,8 Millionen Stimmen, und selbst mit seinem letzten, angeblich schlechten Wahlergebnis 2019 holte er noch rund 10,3 Millionen Stimmen und damit mehr als seine Vorgänger Ed Milliband 2015 (9,3 Millionen Stimmen), Gordon Brown 2010 (8,6 Millionen Stimmen und Tony Blair 2005 (9,5 Millionen Stimmen)). Der Grund: Er habe sich verharmlosend zu einer Antisemitismus-Untersuchung geäußert. Die Blairisten haben nicht mehr alle Tassen im Schrank.
Im Verein mit den Kräften in Wirtschaft, Politik, und Medien, die ein soziales Großbritannien, in dem die wachsende Ungleichheit wieder abgebaut werden soll und Steuergerechtigkeit herrscht, verhindern wollen, sind die Anhänger Blairs unter Führung von Corbyns Nachfolger als Parteichef, Keir Starmer, dabei, die traditionsreiche Labour-Party endgültig zu zerstören.
Wenn schon Rauswurf wegen parteischädigenden Verhaltens, dann hätte als erster der Kriegsverbrecher Tony Blair rausgeworfen werden müssen, dem das Volk einst den „Ehrentitel“ Bushs Pudel verlieh. Der von Blair und Bush zu verantwortende Irakkrieg wurde, wie fast alle Rohstoffkriege, auf Grundlage einer Lüge – „der Irak hat Chemiewaffen“ – begonnen und führte zum Tod von vielen Menschen – Schätzungen gehen von 120.000 bis über 600.000 Opfern aus. Bush und Blair gehören längst vor den Internationen Strafgerichtshof.
Weil er die Politik von Margaret Thatcher fortsetzte, die zur Schwächung der Gewerkschaften und zu Abbau sozialer Leistungen geführt hatte, sagte die „Eiserne Lady“ triumphierend: „Unser größter Erfolg war Tony Blair.“ Würde sie noch leben, dann wäre ihre Freude heute noch größer. Sie hat nicht nur einen willfährigen neoliberalen Nachfolger gefunden, sondern über ihn die britische Labour Party so verändert, dass sich eine der traditionsreichsten Arbeiterparteien Europas selbst zerstört.«
…
Und Albrecht Müller meint:
»Am Vorgang wird deutlich, wie systematisch auch in Großbritannien die linke Partei, die Labour-Partei, unterwandert und umgedreht worden ist. Jetzt hat sie ihren profilierten ehemaligen Vorsitzenden suspendiert. Jeremy Corbyn, der Hoffnungsträger vieler Menschen in Großbritannien und darüber hinaus, darf nicht mehr Mitglied der Labour-Fraktion sein. Zuvor hatte man ihn schon als Labour-Chef mit dem gleichen Antisemitismus-Spiel entmachtet. Dieser Vorgang ist Teil eines grandiosen und weltweiten Spiels: Zum einen werden die sozialdemokratischen und sozialistischen, also die linken Parteien, in den meisten Ländern systematisch umgedreht und ruiniert. Zum andern gibt man sich mithilfe eines „streitbaren“ Kampfes gegen Rechts ein linkes Image. Siehe Merkel, siehe Macron und all ihre Unterstützer in den großen Unternehmen, Finanzkonzernen, den Milliardären und Geheimdiensten dieser Welt.«
Sehr gescheit, die beiden Herren!!!
Ach mal wieder die Antisemitismus-Keule. Das funktioniert halt leider immer gut. Einmal zu sehr die Siedlungspolitik oder Apartheid Isreals kritisiert, schon "hasst" man "Juden". Ist ja klar. Klassischer Beißreflex.
Corbin ist ein Musterbeispiel für die Demontage eines unliebsamen Linken Hoffnungsträgers, der an der herschenden Ungleichheit in Großbritanien etwas ändern wollte. Am Ende wurde er auch von Leuten in der eigenen Partei zu Fall gebracht, die aktiv den eigenen Wahlkampf sabotierten! Damit muss man erst mal rechnen.
Das sollte als eine Warnung dienen, das Personal lieber komplett auszutauschen, wenn man es als "Linker" an die Spitze einer Partei schafft und wirklich etwas am System ändern will.
Ich erinnere mich übrigens in dem Zusammenhang an den "soziale Gerechtigkeits"- Wahlkampf von Schulz, der diesen ja auch völlig verkackt hat. Ihm wurde von seinem Wahlkampfleiter geraten, sich wegen anstehender Landtagswahlen auf nichts konkretes festzulegen und das Maul zu halten, wegen möglichen konservativen Koalitionen. So konnte man natürlich null Glaubwürdigkeit in dem Thema aufbauen.
Da hilft kein Klagen. Es ist richtig, was hier kommentiert wurde, aber es ist eben auch typisch für die Sozialdemokratie seit ihrem ehrlosen Umschwung im Vorfeld des 1. WK und folgerichtig ihrer Bewilligung der Kriegskredite und das Abschlachten revolutionärer Kämpfer.
Was jedoch nicht passieren darf, ist ein Massenaustritt der Corbynistas. Sie sollten in einer Art Guerillakampf Positionen in der Labour Party halten, ausbauen und erweitern. Es geht um die Durchsetzung einer radikalen Programmatik, die anschlußfähig zu außerparteilichen Bewegungen wie "Fridays for Future" und anderen ist. Es darf dabei nicht um den Versuch einer Vereinnahmung gehen, sondern um eine verläßliche Partnerschaft.
Angesichts des britischen Wahlsystems wäre die Gründung einer weiteren Partei ein unnötiger Umweg. Es shließt allerdings nicht aus, in zukünftigen Wahlkämpfen seine Parteimitgliedschaft zeitweise ruhen zu lassen, um progressve KandidatInnen anderer Parteien (z.B. den Grünen oder der SNP) gegen Blaitites durchzusetzen. Gleichzeitig sind Corbynistas im innerparteilichen Kampf als KandidatInnen durchzusetzen, wo immer dies möglich ist.
Bleibt noch zu sagen, dass ich von Keir Starmer sehr enttäuscht bin. So geschickt er im Umgang mit dem Brexit agiert, so sehr fehlt ihm ansonsten eine klare politische Linie.Das macht ihn zwar zum Darling der veröffentlichten Meinung, aber prädestiniert ihn dafür ein weiterer Totengräber der Sozialdemokratie zu werden.
»Ich erinnere mich übrigens in dem Zusammenhang an den "soziale Gerechtigkeits"- Wahlkampf von Schulz, der diesen ja auch völlig verkackt hat.«
Als der große Hoffnungsträger und Kanzler-Kandidat Martin Schulz Arm in Arm mit dem Warlord und Volksbetrüger Gerhard Schröder zum SPD-Parteitag antanzte, statt ihn dem Internationen Strafgerichtshof zu überstellen, wurde klar, dass die neoliberale Strangulierung der Bevölkerung weitergehen sollte.
Ein schönes Beispiel dafür, warum es heute nur noch eine spezifische Klientel in die politischen Laufbahnen zieht. Wenn selbst eine Parteiführung derart bekämpft wird, kann man sich das Elend in der Etappe ausmalen. Bei der SPD kann man das gut beobachten. Eben darum hat auch die DL21 den Stand wie sie ihn hat. Wer da mitwirkt hat seine Karriere nachhaltig beschädigt. Ohne Karrieren kommt man aber oben nicht an und die Einflüsse der Basis haben ihre Grenzen. Gerade alles gut an der Führung zu studieren.
Corbyn hat wirklich das neoliberale Machtgefüge Großbritniens herausgefordert. Die Rechnung muss er nun zu zahlen. Ein Paradebeispiel, wie heute jemand politisch und öffentlich gemordet wird, dem man früher einfach den Schädel eingeschlagen hätte. Die Labour Party unter Sir Keir Starmer bekommt nun wieder Applaus von Murdoch bis zur FAZ und das Siegel „wählbar“, weil man zurück in den Schoß des Neoliberalismus gekrochen. Manche sagen dazu immer noch Demokratie.
Einen moralischen Tiefpunkt der schmutzigsten Art gab es zum Corbyn-Rausschmiss auf Twitter zu besichtigen. Dort hat ein gewisser Sigmar Gabriel sich noch die Füße an Corbyn abgetreten. Was Corbyn allerdings adelt.
Tja, so kann man es wohl auch sehen. Mit Schulz statt Scholz scheint die SPD nun an einem Punkt angelangt zu sein, wo ihnen jede Heuchelei zu Ungleichheit oder Sozialem egal zu sein scheint. Ist irgendwie ehrlicher. Zwar der nächste Seeheimer mit dem man baden geht, aber immerhin verkörpert er das, was die SPD mitlerweile darstellt.
Man wird wieder was vom ach so tollen Programm faseln, das man dem Volk leider nicht erklären konnte. Oder: eigentlich will man ja so viel soziales umsetzen, aber mit der CDU war halt leider nicht mehr drin...das alte SPD-Lied das keiner mehr hören will :-)