Kurdische Frauen-Milizen in Nordsyrien. In den orthodoxen arabischen Gesellschaften wären sie verpönt
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Der Außenborder schiebt das schwere Landungsboot über die Stromschnellen des Tigris. Das sanfte Gurgeln trügt, denn das graublaue Wasser fließt schnell, ein Schwimmer hätte schlechte Chancen, die 300 Meter zu schaffen. Nach wenigen Minuten haben die etwa 20 Passagiere an Bord die fließende Grenze überquert. Die Fähre von Faysh Khabur im Nordirak ist die einzige Verbindung zum kurdischen Nordosten Syriens. Hier liegt mit Jazeera, auch Cizîre genannt, der größte von drei Kantonen, die zusammen das Autonomiegebiet Rojava bilden. Es ist der Schauplatz für einen basisdemokratischen Feldversuch zu Kriegszeiten und ist umgeben von einer nicht eben freundlich gesinnten Türkei, einem skeptischen Irak und rabiaten islamistischen Freisc
ischärlern.Über Qamischli, mit 500.000 Einwohnern die größte Stadt der Region, liegt angespannte Ruhe. Straßenateliers und Krämerläden haben trotz der oft plötzlichen Stromausfälle geöffnet. Von Kebab-Grills vor Restaurants steigen Rauchschwaden auf. Unter den Frauen tragen die meisten keine Kopftücher. Junge Mädchen in Jeans und mit offenen Haaren prägen das Bild.Denkmal geschleiftDerzeit sind einige Straßenzüge der Altstadt von Qamischli gänzlich abgeriegelt. Über anderen Bezirken weht die syrische Flagge, als sollte angezeigt werden, dass hier der Assad-Staat längst nicht aufgegeben hat. Es sei wie im Beirut der achtziger Jahre, als die libanesische Hauptstadt zwischen christlichen und muslimischen Bürgerkriegsparteien aufgeteilt war, meint der Englischlehrer Abdulselam Mohamad. Er unterrichtet an einem Lyzeum, erhält damit sein Geld vom Staat, doch reichen die umgerechnet 200 Dollar Gehalt im Monat nicht aus, sodass sich Mohamad zusätzlich als Übersetzer verdingt. Gleichzeitig setzt er sich für die Autonomie Rojavas ein, gehört zur Tev-Dem, der Demokratischen Gesellschaft in Westkurdistan, und ist dort für „diplomatische Beziehungen“ zuständig, was immer das heißen mag. An den Kontrollposten, die entlang der Landstraßen, aber auch in Qamischli selbst errichtet sind, stehen kurdische Posten in olivgrünen Uniformen und kontrollieren Motorrikschas, Sammeltaxis oder Lastwagen.Mit ihren Sturmgewehren wirken diese „Asayesh“ mehr wie Paramilitärs denn Polizisten. Sie bewachen zugleich einige wenige Tankstellen, die noch über Benzin- und Dieselvorräte verfügen. Im Hauptquartier der Asayesh erklärt Hamed Khelo, nach dem Rückzug der Assad-Armee aus großen Teilen Rojavas im Sommer 2012 sei ein Sicherheitsvakuum entstanden, das man ausgefüllt habe. Jetzt müsse man sich um so gut wie alles kümmern – vom zu regelnden Verkehr bis hin zu Ermittlungen bei Mordfällen. Allerdings sei der Flughafen von Qamischli, der Einzige in der Region, weiterhin in der Hand des Regimes. Doch kontrolliere man immerhin drei Viertel der Stadt. Insofern führe die Präsenz der Assad-Getreuen nicht zu steter Konfrontation. „Es gibt keinerlei Zusammenstöße“, beteuert Khelo. In den ländlichen Gegenden hätten ohnehin allein die Asayesh das Sagen. Leider fehle es an Waffen und Ausrüstung, um effektiver kontrollieren zu können.Aber das ändert augenscheinlich nichts daran, dass die Asayesh und der militärische Arm der Autonomiebewegung – die Volksverteidigungseinheiten YPG – gut aufgestellt sind, um sich zu behaupten. Schließlich hält es die arabische Bevölkerung von Qamischli weiter mit der Regierung von Baschar al-Assad. Seine Truppen, soweit vorhanden, werden als Schutzmacht empfunden, nicht zuletzt gilt das für die christliche Minderheit. Bärtige junge Männer fahren auf Pritschenwagen mit syrischer Flagge und aufmontiertem Maschinengewehr durch die Straßen, als wollten sie sagen, noch kann sich die kurdische Administration mit ihrer Autonomie nicht durchsetzen, vielmehr herrscht eine Patt-Situation. Und wer weiß schon, ob wir den Bürgerkrieg nicht gewinnen?30 Kilometer westlich von Qamischli, fast an der Grenze zur Türkei, liegt die Kleinstadt Amouda. Dort hat sich die provisorische Regierung des Kantons Jazeera eingerichtet. Während in Qamischli die Statue von Hafiz al-Assad, dem Vater des jetzigen Präsidenten, noch in voller Pracht auf einer Verkehrsinsel steht, ist es mit dieser Herrlichkeit in Amouda vorbei. Vom einstigen Monument ist lediglich ein Stahlrohr im Sockel geblieben.In der vorläufigen Verfassung, der Sozialcharta, die erst im Januar verabschiedet wurde, verspricht die Autonomieregierung, die Rechte aller Bewohner Rojavas seien geschützt, darunter auch die der Araber und Assyrer. Es solle keine Diskriminierung wegen der Rasse, der Religion oder des Geschlechts geben, „um das politische und moralische Gefüge einer demokratischen Gesellschaft“ nicht zu gefährden. Die Regierung stehe für alle ethnischen Gruppen, meint Elisabeth Goriya, Vizepräsidentin des Exekutivrates, selbst Assyrerin und damit Christin. Es sei nicht daran gedacht, im Nordosten einen eigenen Staat zu gründen.„Wir sind ein Teil Syriens. Und wir wollen ein Teil Syriens bleiben.“ Vielmehr könne das Experiment in Rojava als Beispiel für ein stärker dezentralisiertes Land nach dem Bürgerkrieg dienen. Vorwürfe, wonach die Kurden in Nordsyrien von der PKK-nahen Partei der Demokratische Union (PYD) dominiert würden und diese jegliche Konkurrenz abwürge, weist Goriya zurück. Auch von einer ideologischen Doktrin will sie nichts wissen. Zu den Theorien des PKK-Führers Abdullah Öcalan, dessen Konterfei Amts- und Konferenzräume schmückt, könne sie nichts sagen. „Wir versuchen, eine Regierung für die einfachen Leute zu sein.“Allerdings will Goriya nicht verhehlen, dass es gerade jetzt schwer sei, ein demokratisches System aufzubauen. Ein Grund sei die Präsenz des Regimes in Qamischli wie der zweitgrößten Stadt al-Hasaka. Auch der militärische Druck, der von islamistischen Kampfverbänden ausgehe, und die geschlossene Grenze zur Türkei sorgten nicht eben für günstige Umstände.Tatsächlich wäre es illusionär, während eines Bürgerkriegs zu erwarten, dass sich im Norden Syriens eine durch und durch demokratische und pluralistische Kurden-Autonomie etabliert. Bisher gab es keine Wahlen in Rojava. Erst für den Sommer ist ein Votum geplant.Zwölf BeutepanzerIn der Stadt Rimelan bittet Rêdûr Khalil, Sprecher der Volksverteidigungseinheiten YPG, in einem weitläufigen, mit Polstermöbeln ausgestatteten Büro zum Gespräch. In seinem Kampfanzug, mit den frisierten Haaren und der glatten Rasur könnte er auch in den Diensten der US-Armee stehen. Bei den YPG, erläutert er, habe man es mit drei Teilstreitkräften zu tun: Regulären Soldaten, Spezialkräften, freiwilligen Kämpfern, die wie Milizen aufgestellt seien und nur dann aktiv würden, sollte es die Lage erfordern. Es gäbe keine übergelaufenen Einheiten der Assad-Armee, jedoch ehemalige Wehrpflichtige, auf deren Ausbildung man zurückgreife, wenn es beispielsweise gelte, zwölf Beutepanzer zu steuern.Keine Frage, für Rojava gehe die größte Bedrohung von den Gotteskriegern der Organisation Islamischer Staat im Irak und der Levante (ISIS) aus. Sie verhielten sich „wie wilde Menschen“, sagt Khalil, und seien dafür berüchtigt, gefangene Gegner zu köpfen. Zumeist würden sich ISIS-Einheiten aus Ausländern rekrutieren. „Syrer lassen sich dafür nicht vereinnahmen.“ Die YPG hätten trotz der permanenten Bedrohung der beiden kleineren Kantone Koubani und Afrin keine Offensivpläne. „Die 35.000 bis 50.000 Männer und Frauen der YPG bilden reine Verteidigungseinheiten und sind stark genug, unser Gebiet zu halten.“ An einigen Abschnitten geschieht das, indem kurdische Einheiten neben Soldaten der Freien Syrischen Armee (FSA) stehen.In einem Container am Tigris sitzt ein junger Soldat der YPG. Er kommt herüber, zückt sein Handy und ruft ein Video auf, das er offenbar unbedingt zeigen will. Was darin zu sehen ist, ruft Entsetzen hervor. Einige Männer – mutmaßlich sind es Islamisten, die ein Gottesurteil vollstrecken – schneiden einem am Boden liegenden Mann mit einem Messer die Kehle durch. Der scheidende Besucher soll aus dem Kurdengebiet diese Bilder als letzten Eindruck mitnehmen und verstehen: Für Rojava geht es ums Ganze.
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