Väter können nur schwer los lassen. Das ging auch dem 69-jährigen Peter Sodann so, als er nach 25-jähriger Theaterleitung sein Lebenswerk, das Neue Theater Halle, der nächsten Generation übergeben musste. Sodann, einer gesamtdeutschen Öffentlichkeit vor allem als Tatort-Kommissar bekannt, hat der Stadt Halle eine ganz eigene und eigenartige Theaterinsel geschaffen. Die er in doppelter Hinsicht "aufgebaut" hat, als Künstler, Manager und Bauherr. Anfang April 1981, nach der Trennung von Oper und Schauspiel, eröffnete er das aus einem Kino entstandene Neue Theater in den maroden, ehemaligen Kaisersälen in Halles Zentrum. Hier herrschte der Theaterpatriarch Sodann als Schauspieldirektor, Regisseur und Schauspieler. Sein Lebenswerk, eine sich
ne sich über ein umfangreiches Gebäudekarree erstreckende "Kulturinsel" mit mehreren Theaterräumen, mit Galerie, Kneipen, Café und DDR-Büchersammlung, war jahrzehntelang ein von den Hallensern geliebtes Refugium für klare Fabeln und realistisch-psychologisches Theaterspiel. Dieses solide Einverständnistheater erinnerte allerdings zuweilen auch ans Fernsehtheater Moritzburg.Schließlich wünschte die Stadt mit einem Generationswechsel in der Leitung zugleich eine künstlerische Veränderung, hin zu einem nicht näher definierten "neuen" Theater. Eine Findungskommission entschied sich für eine hausgemachte Lösung, für den 41-jährigen Christoph Werner, Intendant des international renommierten Puppentheaters, das nach langjährigem Provisorium 2002 eine eigene Spielstätte in der "Kulturinsel" bezogen hatte.Die unerfreulichen und ungerechten, auch über die Boulevardpresse geführten Vorwürfe des nur widerstrebend scheidenden Intendanten Sodann gegenüber seinem Nachfolger haben dem Theater enorm geschadet. Die Hallenser folgen dem neuen "Neuen Theater" bisher nur zögerlich auf dessen "Reisen ins Glück" (Spielzeitmotto!). Dabei wirft sich das neue Team mit großem Elan und überzeugenden Ideen in seine Aufgabe. Mit etwas überbordender Seefahrt-Metaphorik werden Stücke vorgestellt, in denen "Seefahrer, Glücksritter, Grals- und Utopiesucher" mit den Zuschauern auf die Reise gehen. Begonnen hat man mit vier Premieren an einem Abend. Mit einer Puppentheater-Version der Tyrannen nach Sophokles und drei Schauspielpremieren, in denen sich die für zwei Jahre fest engagierten drei Hausregisseure vorstellten. Enrico Lübbes Inszenierung von Horvaths Übergangs- und Untergangsstück Zur schönen Aussicht, das erbarmungslos zeigt, wie der Wert von Menschen und menschliche Werte vom Geld abhängen, fehlte aber leider jede Zuspitzung und Schärfe. Das war psychologisch nicht sonderlich differenziertes, recht plan nacherzähltes Schauspielertheater. Kein Neuanfang. Claudia Bauer gelang dagegen in der Werft, der zu einem offenen, multifunktional zu nutzenden Raum umgebauten einstigen Kammerbühne Kommode, mit der Uraufführung von Oliver Schmaerings Seefahrerstück ein fulminanter Auftakt. Sie überführte Schmaerings Ideen-Stück, in dem der Autor Matrosen auf eine imaginäre Irrfahrt schickt (von Arkadien zu den Argonauten, vom Fliegenden Holländer in den Weltraum und auf den Fußballplatz), wobei die Männer sich auf mindestens vier Sprach- und Zitatebenen mit Weltbeglückungsutopien, aber auch mit philosophisch aufgemotzten Lesefrüchten des Autors herumschlagen müssen, mit jungen Ensemblemitgliedern und Studenten des Schauspielstudios auf leerer Bühne in ein dynamisches Körperspiel von großer szenischer Phantasie. Christian Weise verlegte Joseph Kesselrings Kriminalkomödie Arsen und Spitzenhäubchen, in dem zwei Tanten aus Mitleid alte Menschen morden, in unsere von Arbeitslosigkeit und angeblicher Überalterung geprägte Nachwendezeit. Der bei seinen Schwestern wohnende, geistig zurückgebliebene, bei Kesselring (nach Roosevelt) Teddy heißende Mann wird hier zu einem Walter (nach Ulbricht), der sich noch immer auf die 10. Weltfestspiele der Jugend und Studenten vorbereitet und die Leichen im Keller als Opfer beim Bau der BAM (der Baikal-Amur-Magistrale) beerdigt. Leider nimmt der schöne Einfall, Walter FDJ- und Puhdys-Lieder singen zu lassen, dem Spiel alles Tempo, statt ihm satirischen Drive zu geben. Doch insgesamt war dieser Spielzeitauftakt ein deutliches Signal für eine Veränderung, die keineswegs radikal sein will.Auch wenn das Publikum in Halle gegenüber unbekannten Texten und Autoren abwartend reagiert, wagt das neue Team diese bewusst. Wie Oliver Bukowskis Steinkes Heimkehr, das einen erfolgreichen Manager des Autoverkaufs zeigt, einen Selfmademan-Aufsteiger, der seine Familie wie seine Arbeit funktional zu beherrschen sucht. Doch als der 50-Jährige in die Berge zu einem Familienurlaub geschickt wird, der wohl eher eine Vorstufe zum Rausschmiss darstellt, brechen ihm alle Sicherheiten weg. Bühnenbildnerin Angelika Richter hat deshalb einen Laufsteg über den Bühnenabgrund gebaut, von dem Treppenstege zu den Seiten abgehen, und Regisseur Ulf Frötzschner hat Bukowskis kleines Stück, das seine Position zwischen Pointen und Tiefgang, zwischen Komik und Bedeutung nicht recht findet, geschickt zur schauspielerbetonten, spielerischen Parabel ausgemalt.Wozu die neue Truppe aber wirklich fähig ist, bewies das kunstvoll einfache Erzähltheater, als das der holländische Regisseur Paul Binnerts Amos Oz´ Roman Allein das Meer auf die Bühne des großen Saales gebracht hat.Hier ist die Bühne Landschaft für Theaterspiel und Gedanken über das Leben. Die Schauspieler finden sich vor Beginn auf offener Szene am Teetisch zusammen. Vier Steinbrocken, dahinter ein sich drehender, rostgoldener Quader, dazu viele zusammengestellte Stühle und ein Musiker an seinem Computer. Erst wird die Hauptfigur vorgestellt, der "sanfte Steuerberater" Albert, der seine krebskranke Frau verloren hat, dann tritt der Autor selbst als kontrollierender und reflektierender Erzähler des Geschehens auf. Sieben Menschen, die von ihrer individuellen Glückssuche berichten, finden sich zu immer neuen, meist Dreieckskonstellationen zusammen. Es ist ein stiller, und doch ereignisreicher Roman, - trotz fehlender großer äußerer Ereignisse. Wie nun Paul Binnerts mit dem wunderbar zurückhaltend agierenden Ensemble Oz´ so untheatralisch scheinenden Roman auf die Bühne gebracht hat, ist ein kleines, feines Theaterwunder. Binnerts hat den mäandernden Erzählstrom in 34 Szenen komprimiert, wobei sich die Geschichten überschneiden, kommentieren und verweben zur eindringlichen Erzählung von den einfachen Problemen des Lebens. Der Zuschauer hat nie das Gefühl, etwas erklärt zu bekommen, und erfährt doch viel. Ständig wechseln Zeit und Raum, aber die Szenerie bleibt gleich. Dabei sind alle Figuren die gesamte Zeit auf der Bühne. Im Spiel sind alle beieinander, auch die Verstorbene und der ferne Sohn, selbst der nachdenkliche Autor. Eine der Personen bringt es auf den Punkt: "Es ist wie in einem Stück von Tschechow. Geldprobleme, und alle rennen der verkehrten Person hinterher, Leidenschaft, aber kein Rückgrat, es passiert eine Menge, aber verändern tut sich nichts." Indem die Schauspieler nicht versuchen, theatrale Als-Ob-Situationen zu gestalten, sondern spielerisch erzählen und dabei Haltungen und Handlungen zugleich vor- wie ausstellen, verzaubern sie ihr Publikum mit diesem kleinen, aber so großartigen Theaterabend in Halle.Zwar ist die Stadt Halle pleite, doch sie leistet sich mit der Oper, dem Thalia Theater (dem experimentierfreudigen Kinder- und Jugendtheater) und dem Neuen Theater noch immer drei Bühnen. Christoph Werner, der ins einst über 30-, nun 24-köpfige Ensemble 18 unkündbare Schauspieler übernommen hat, hat eine städtische Einsparvorlage wohl ohne soziale und künstlerisch unzumutbare Härten umgesetzt. Doch nun erreichte ihn die neue Forderung, bis 2012 rund 1,1 Millionen einzusparen (bei einem Etat von etwa 7,7 Millionen). Schon hat Stadt ein neues Haushalts-Konsolidierungskonzept vorgelegt, mit dem sie 30 Millionen sparen will. Das bedeutet für das Neue Theater, aber auch die anderen Bühnen: Es kommen harte Zeiten. Christoph Werners "Reise ins Glück" wird in schwere See geraten.
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