Für ihr neues Buch Ich hätte sie gerne noch vieles gefragt/Töchter und der Tod der Mutter interviewte die österreichische, in Köln lebende Journalistin und Sachbuchautorin Ingrid Strobl, die sich in ihren Büchern bislang vor allem mit dem antifaschistischen Widerstand von jüdischen Frauen beschäftigt hat, 20 Frauen und befragte sie über ihre Beziehung zur Mutter und zu deren Tod. Die meisten der befragten Töchter gehören den Jahrgängen 1948 bis 1954 an (Strobl ist Jahrgang 1952), die Mehrheit war zwischen 40 und 60 Jahre alt, als ihre Mutter starb. Bis auf eine Ausnahme sind die Interviewten berufstätig und leben in Großstädten. Die Aussagen der Töchter über die Beziehung zu ihren Müttern, ihre Empfin
hre Empfindungen bei deren Sterben und Tod, hat die Autorin in verschiedenen Themen-Komplexen zusammengefasst. In einem ersten Teil analysiert Strobl zuvor den schriftstellerischen Umgang mit dem Tod der Mutter in der Literatur der Töchter anhand von Gedichten und Prosastücken aus den Werken von Virginia Woolf, Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs, Simone de Beauvoir, Vera Stefan und Louise Michel und setzt sich mit feministischen Texten über Mütter und Töchter auseinander. Ein Kernstück und der persönliche Anlass für das Buch ist in dem Kapitel "Requiem für meine Mutter" die Schilderung des Sterbens von Ingrid Strobls eigener Mutter, die sie bis zu deren Tode pflegte. FREITAG: Trauerbewältigung oder Trauerbegleitung sind seit einiger Zeit durchaus populäre Themen. Wie ordnen Sie Ihr Buch in diesen Trend ein? INGRID STROBL: Tatsächlich gibt es zum Thema "Töchter und der Tod der Mutter" kaum Literatur, es gibt sogar, das war für mich selbst überraschend, wenig deutschsprachige Literatur über die Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern.Sie sind bislang als politische und feministische Autorin hervorgetreten. Was hat Sie veranlasst, sich dieses offenbar vernachlässigten Themas anzunehmen? Der Ausgangspunkt war erst einmal ein persönlicher: Meine Mutter ist gestorben. Und ich habe deshalb intensiv über sie - und uns - nachgedacht. Und dabei habe ich mich daran erinnert, dass sich unser Verhältnis zum ersten Mal grundlegend wandelte, als ich Feministin wurde. Als ich mich damit auseinander setzte, was es heißt, eine Frau in einer patriarchalen Gesellschaft zu sein, da habe ich auch ganz anders als vorher mit ihr gesprochen, sie andere Dinge gefragt, sie als Frau jenseits ihres Mutterseins wahrgenommen.Was waren diese "anderen Dinge"? Ich habe sie zum Beispiel gefragt, was es für sie bedeutet hat, den Beruf wegen der Kinder - also auch meinetwegen - aufzugeben. Ich wusste oder ahnte, dass ihr das sehr schwer gefallen war. Und sie hat mir erstaunlich ehrlich darauf geantwortet. Ich habe sie auch gefragt, wie sie als junges Mädchen war, was sie sich damals vom Leben erhofft hat, aber auch, wie ihre eigene Mutter sich ihr gegenüber verhalten hat. Ich habe festgestellt, dass in meiner Generation, also den Frauen der neuen Frauenbewegung, die jetzt zwischen 50 und 60 sind, sehr viel zwischen Müttern und Töchtern passiert, was noch nicht beschrieben wurde. Frauen in meinem Alter haben sich zwar mit ihren "Nazieltern" auseinandergesetzt, was aber konkret meistens hieß: mit den Vätern. Die Mütter blieben dabei außen vor, weil sie als unpolitisch oder per se als Opfer angesehen wurden. Mit der fast immer ambivalenten Beziehung zur Mutter haben sich selbst die Frauen, die in der Frauenbewegung aktiv waren, in einem öffentlichen Sinne kaum beschäftigt. Privat vermutlich schon, aber es gibt so gut wie kein schriftliches Material darüber.Das kann ich kaum glauben. Ich konnte es zunächst auch nicht glauben, es hat sich aber während meiner Recherche herausgestellt, dass dem tatsächlich so ist. Offensichtlich denkt "man", es gäbe ausreichend Literatur zu diesem Thema, aber wenn man dann danach sucht, findet man nur wenig. Und eben auch die Tatsache, dass die Mütter, von denen wir uns loslösen und abgrenzen wollten, inzwischen alt werden und sterben, wird nur selten thematisiert.Wie haben Sie Ihre Ausgangsposition für das Buch formuliert? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich meine Beziehung zu meiner Mutter ein Leben lang gewandelt hat und damit auch meine Selbstwahrnehmung. Ich bin davon ausgegangen, dass das bei anderen auch so ist, und die Gespräche, die ich nach dem Tod meiner Mutter mit anderen Frauen führte, haben mich darin bestärkt, dass es sich lohnt, dem genauer nachzugehen. Wobei die Auswahl Ihrer Interviewpartnerinnen - sowohl, was das Milieu, als auch, was das politische Bewusstsein angeht - begrenzt ist. Ja, aber ich wollte keine wissenschaftliche Arbeit vorlegen. Ich wollte über dieses schwierige und intime Thema mit Frauen sprechen, die Vertrauen zu mir haben, die wissen, dass ich mit dem Material, mit dem, was sie mir anvertrauen, sensibel und behutsam umgehe. Man spricht mit Fremden nicht so offen, wie diese Frauen mit mir gesprochen haben. Es waren zunächst Freundinnen, dann Freundinnen von Freundinnen und dann ging es noch ein wenig darüber hinaus. Trotz ihrer Offenheit haben aber fast alle Frauen die von mir angebotene Anonymisierung gewählt.Haben Sie einen spezifisch feministischen Umgang mit der Tochter-Mutter-Beziehung und dem Sterben der Mütter festgestellt? Vor allem habe ich festgestellt, dass das extrem reaktionäre Rollenbild der fünfziger und sechziger Jahre von unseren Müttern überhaupt nicht erfüllt werden konnte, selbst wenn sie es hätten ausfüllen wollen. Viele von ihnen haben hart gearbeitet, "mitgearbeitet", wie das damals hieß. Es wird völlig unterschätzt, dass die Arbeiterfrauen sowieso, aber auch viele Mittelschichtfrauen zumindest halbtags gearbeitet haben. Gleichzeitig wollten und sollten sie aber auch dem Zeitgeist gemäß perfekte Hausfrauen, Mütter und Ehefrauen sein. Diese Schizophrenie haben sie uns mitgegeben, indem sie einerseits forderten, wir sollten auf eigenen Füßen stehen, andererseits aber sollten wir auch hübsch und brav sein und möglichst heiraten und Kinder kriegen. Wir Töchter haben dann gegen diese widersprüchlichen "Aufträge" aufbegehrt. Jetzt, Jahrzehnte später, wird der Tod oder das Sterben der Mutter für uns oft zum Anlass, ganz neu und anders über sie nachzudenken, nämlich auch darüber, wie sie denn mit diesen anstrengenden und sich widersprechenden Anforderungen zurecht gekommen ist.Würden Sie soweit gehen zu sagen, dass es angesichts des Todes zu einer Versöhnung zwischen der rebellischen Töchtergeneration und ihren Müttern kommt? Ja, das haben fast alle meine Interviewpartnerinnen angesprochen und so empfunden. Sogar jene, die eine abweisende, dominante oder harte Mutter hatten. Die Grundbedingung für solch eine Versöhnung ist aber, nach der Person, der Frau zu fragen, die hinter der Mutterfigur steckt, denn nur so wird verständlich, warum sie so war, wie sie war, ohne dass man deshalb alles verzeihen muss. Es kann entlastend sein, sich mit der toten Mutter auf diese Weise auseinander zu setzen, weil sie dann nicht mehr mit dem Verhalten dazwischenfunken kann, mit dem sie die Tochter vielleicht ein Leben lang verletzt hat. Aber ich würde mit meinem Buch gerne erreichen, dass Töchter sich mit ihren lebenden Müttern beschäftigen - und damit auch mit sich selbst.Also gibt es auch in diesem, für Sie eher untypischen Buch, ein politisches Anliegen. Ja, wenn auch in dem Sinne von "Das Private ist politisch". Ich habe festgestellt, dass es für Frauen ein großer Gewinn sein kann, wenn sie sich in einer Kette von Frauengenerationen wahrnehmen, und sich ihres weiblichen "Erbes" bewusst werden. Wenn sich also Frauen nicht als Wesen sehen, die nur gegen männliche Normen rebellieren können und alles selbst erfinden müssen, sondern als Wesen mit einer eigenen Geschichte und eigenen Stärken. Virginia Woolf hat gesagt, "Denn wir denken durch unsere Mütter zurück, wenn wir Frauen sind". Wenn wir das tun, und wenn die Mütter nicht gerade Nazifrauen waren, können wir daraus auch Kraft und Selbstbewusstein schöpfen.Das Gespräch führte Ulla LessmannIngrid Strobl: Ich hätte sie gerne noch vieles gefragt/ Töchter und der Tod der Mutter, Wolfgang Krüger-Verlag, Frankfurt/Main 2002, 269 S., EUR 22,90
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