Nach einem Sonnenaufgang

Wegbereiter für Porto Alegre Pierre Bourdieu und die Assoziation ATTAC

Viele Fragen, die der konformistische Zeitgeist längst als altmodisch abgeschrieben hatte, galten dem in der vergangenen Woche verstorbenen französischen Soziologen Pierre Bourdieu als nach wie vor aktuell. Noch im November beschäftigte er sich mit "den Aufgaben des Intellektuellen in Krisensituationen" und stellte fest: "Die Aufgabe besteht nicht einfach darin, Meinungen zu äußern, seien sie auch edel und progressiv, sondern darin, ein möglichst authentisches Bild der Realität zu liefern - und damit auch raisons d´agir, Gründe zum Handeln." Er traf damit wie sonst kein französischer Intellektueller den Geist von Porto Alegre, weil er sich als Widerpart eines akademischen und politischen "Juste Milieu" empfand, das ihn nur zu gern mit Hohn und Spott überschüttete. Das hinderte ihn und sein Team nicht daran, das ganze Elend der Welt - so der Buchtitel von 1997 - zu dokumentieren und das elende Leben der kleinen Leute auf über 1.000 Seiten prägnant zu beschreiben. Dieses Buch wurde ein Bestseller, was ernsthaften Soziologen selten gelingt. Günter Grass fühlte sich mit seinem Buch Mein Jahrhundert dem Forschungsunternehmen Bourdieus verwandt: "Wir sprechen nicht über die Gesellschaft hinweg, nicht aus der Position der Sieger, sondern sind berufsnotorisch auf Seiten der Verlierer."

Bourdieus Kritik an der pensée unique der Wirtschafts- und Staatselite spaltete die Intellektuellen. Die konformistische Gruppe um Alain Touraine und Pierre Rosanvallon, die sich in Frankreich längst mit dem arrangiert hat, was "der Fall ist", meint inzwischen auch, dass der "Sozialstaat" nur durch den "Abbau von Privilegien modernisiert" werden könne. "Abbau von Privilegien", höhnte Bourdieu, meine doch im Klartext nur Leistungskürzungen und Abgabenerhöhungen für Menschen mit umgerechnet 4.000 Francs Monatslohn, und beschrieb seine alerten Antagonisten als "vielschreibende und vielgestaltige Intellektuelle, die ihre jährliche Lieferung für den Buchmarkt zwischen zwei Aufsichtsratsterminen, drei Presse-Cocktails und einigen TV-Auftritten verfassen." Er definierte sie als "Doxosophen", die im Unterschied zu den auf Aufklärung und Kritik eingeschworenen Philosophen bloße "Meinungstechniker" seien.

Auch bei der von Bourdieu entscheidend inspirierten Gründung von ATTAC (Association pour la taxation des transactions financières et pour l´aide au citoyen) ging es 1998 letztlich darum, die Vorherrschaft der Medienintellektuellen zu brechen. Bourdieu hatte daran mehr Anteil als nach außen sichtbar wurde. Heute zählt ATTAC nur in Frankreich fast 30.000 Mitglieder. Zur Vorbereitungsveranstaltung für das Weltsozialforum in Porto Alegre und zur Vorstellung des Manifests 2002, mit dem ATTAC zu den Präsidentschaftswahlen Stellung nahm, kamen am 19. Januar in Paris 6.000 Menschen - Ehrenpräsident Ignacio Ramonet sprach voller Stolz von einem "Sonnenaufgang". ATTAC wird natürlich im Wahljahr von allen Parteien hofiert, doch die Organisation hält - wie Bourdieu es immer getan hat - zu allen Parteien Distanz. Das Manifest 2002 definiert die Rolle von ATTAC als die eines "demokratischen Anregers" und "einer Bewegung der Volksbildung, die politisches Denken nicht von politischem Handeln trennt." Die Organisation betreibt keine Klüngel- und Gremienpolitik, sondern wendet sich direkt an die Bürger, um diese "davon zu überzeugen, dass die momentan herrschende Politik nicht die einzig mögliche ist". So steht ATTAC längst nicht mehr nur für Tobin-Steuer; die Bewegung ist zu einem Forum geworden, in dem sich verschiedene Stränge der Kritik an der neoliberalen Globalisierung bündeln.

Siehe auch Nachrufe auf Pierre Bourdieu und

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