A
Airbnb Der vom Couchsurf-Vermittler mutierte Web-Anbieter drückt nicht nur städtische Wohnungsmieten in die Höhe, öfter gerät auch die Nachbarwohnung zum inoffiziellen Hostel, so wie die Wohnung über mir. Dass sich Unbekannte die Türklinke in die Hand geben, muss nichts Schlechtes bedeuten, wir haben auch einen Zahnarzt im Haus. Nur machen Patienten nicht spätnachts Party. Oder – je nach Vorliebe – frühmorgens polternd Sport. Die Kopulationsfrequenz liegt bei Urlaubern viel höher, glauben Sie mir, ebenso die Häufigkeit von Erbrochenem im Flur. Airbnb ist also Teil des asozialen Netzwerks.
Ein Gegenspieler soll nebenan.de sein. Die vom Medienunternehmen Burda mitfinanzierte Plattform will Quartiersnachbarn miteinander vernetzen. Es menschelt. Ganz so, als ob man sich im Kiez nicht sowieso kennt. Da kann ich auch gleich aufs Dorf (➝ Demarkationslinie) ziehen – eine Wohnung mehr, die für Airbnb frei wäre. Tobias Prüwer
B
Bibliothek Der große Bildwissenschaftler Aby Warburg (1866 – 1929) war ein rechter Sonderling. Als Erstgeborener hätte er die Bank seines Vaters übernehmen sollen. 13-jährig verkaufte er aber sein Erstgeborenenrecht an seinen Bruder Max, „nicht für ein Linsengericht,“ wie der sich später erinnerte, sondern für die „Zusage, dass ich ihm immer alle Bücher kaufen würde, die er brauchte“. Max war einverstanden und „und gab ihm ahnungslos einen sehr großen Blankokredit.“ 1911 nannte Aby 15.000 Bücher sein eigen, 1920 schon 20.000. Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg in der Hamburger Heilwigstraße war für 120.000 Bände ausgelegt.
Warburg wäre nicht Warburg gewesen, hätte er nicht auch eine ganz eigene Ordnung in die Schriftmassen gebracht: wissenschaftliche Werke neben solchen über Magie, Astrologie oder Alchemie, was zeigen soll, dass die Kategorien, in die wir die Welt eingeteilt haben, nicht in Stein gemeißelt sind. Die Aufstellung ermöglicht auch, auf der Suche nach einem Buch vielleicht ein ganz anderes zu finden, einen Glücksfund zu machen. Warburg nannte das das „Gesetz der guten Nachbarschaft“. Mladen Gladić
Block Angenommen, die Mieten steigen so stark, dass du deine Altbauwohnung im Kiez verlassen und nach Spandau oder Marzahn ziehen musst. Das wäre erst mal gar nicht so schlimm. Ist doch ruhig und grün da. Aber dann stehst du auf dem Balkon, riechst den Weichspülerduft, gemischt mit dem Rauch billiger Zigaretten, der aus der Wohnung unter dir zu dir hochzieht. Im Fahrstuhl begegnest du dem Typen mit dem Kampfhund aus Etage 18 und den unfassbar frechen Kindern aus Etage 22.
Dann sitzt du da, bei geschlossener Balkontür, hörst den Staubsauger von links, den Fernseher von rechts, den Ehekrach von obendrüber, die verdächtige Stille von untendrunter. Du wirst nicht mehr auf die Partys auf den innenstädtischen ➝ Dachterrassen eingeladen, weil du nicht mehr trinkst, weil du ja noch Auto fahren musst. Du legst dir einen Fernseher zu. Das Hasch von dem Dealer aus der Dritten ist besser, als du dachtest. Du verliebst dich in den Dealer. Der Dealer hat Geld. Ihr heiratet. Zusammen zieht ihr in eine Villa nach Frohnau. Das Leben ist wieder schön. Ruth Herzberg
D
Dachterrasse Wenn ich aus dem Küchenfenster schaue, dann sehe ich sie, die Dachterrasse. Die da drüben haben alles richtig gemacht (➝ Horror). Birken gepflanzt! In Kübeln! Haben Sie einen Pool?
Nachts, hinter den bodentiefen Fenstern, die Schatten. Die haben einen Beamer und sehen Filme, groß wie im Kino. An Sommerabenden: Bunte Lichterketten leuchten, Menschen stehen herum. Ich höre Lachen, Musik und Gläserklirren und wäre sehr gern mal bei denen eingeladen. Dann könnte ich von der Dachterrasse aus meine Wohnungsfenster sehen. Vierter Stock immerhin, aber nur ein 50er-Jahre-Bau, links die ungeputzten Fensterscheiben der Küche. Es sieht bestimmt langweilig aus. Die Armen. Mir geht’s gut. Ich mag meine Wohnung, und ich kann ihr perfektes Leben auf ihrer Dachterrasse aus der Distanz beobachten. Aber die da oben sehen nur mein Haus. Ruth Herzberg
Demarkationslinien Sie trennen feindliche Nachbarn oder gar Kriegsparteien. Sie sollen nur vorläufig gelten, aber sind meist so bewacht und gesichert, als seien sie für die Ewigkeit gemeint. Wer wüsste das besser als die Deutschen. Die Grenze zwischen Nord- und Südkorea am 38. Breitengrad ist die berühmteste Demarkationslinie der Gegenwart. Vor 11 Jahren schon überschritten die damaligen Präsidenten Südkoreas und Nordkoreas diesen Breitengrad zu Fuß, um symbolisch ihren Friedens- und Verhandlungswillen zu dokumentieren. Ähnliches taten vor Kurzem Kim Jong-un und Moon Jae-in. Medial spektakulär. Die aktuelle Situation zeigt, dass Nachbarn im Konflikt sich nicht so schnell einigen, wie es Symbolpolitik vorgaukelt. Magda Geisler
E
Existenz Der Fotokünstler Arne Svenson sagt, er illuminiere mit seinen Arbeiten „Nuancen der menschlichen Existenz“. In New York entstehen diese Nuancen: Svenson fotografiert seine Nachbarn hinter ihren Fenstern. Manche telefonieren, andere kämmen sich die Haare. Gesichter sind kaum zu erkennen. Ästhetisch brillant ist das, wunderbar, wie die Fenster den Motiven einen Rahmen geben.
Seine Reportage The Neighbours ist umstritten. „Ich fotografiere nichts Anzügliches oder Erniedrigendes“, so Svenson. „Ich habe Momente festgehalten, in denen jemand eine graziöse Handbewegung macht, oder Menschen, die von Gardinen und Stoffen verschleiert sind.“ Dennoch klagt eine Familie, unterliegt jedoch vor Gericht. Und so zeigt die in blassen Farben fotografierte Serie nicht nur Nachbarn in alltäglich entrückten Momenten (➝ Stille) – sondern ist auch ein Kommentar dazu, wie weit die Freiheit der Kunst reichen kann. Marc Peschke
F
Flur Wir trafen uns meist zufällig, auf der Treppe. Das erste Mal war es Mitte der 1990er, als ich im Haus einzog. Er stellte sich vor und berichtete, er habe gerade sein festes Engagement am Theater (seine Paraderolle war Mephisto) gekündigt. Man dürfe nicht bequem werden, sollte im Leben alles offenhalten. Zack. Ich fand das mutig. Ich war gerade auf der Suche nach was Festem. Sicherheiten. Im Beruf, in der Liebe. Einmal hat mir mein Nachbar von seiner Dreiecksbeziehung erzählt. Die Frau sei seelenverwandt, könne sich aber noch nicht von ihrem Freund lösen. „Ich lasse ihr einfach Zeit.“ Weisheiten auf halber Treppe, irgendwann würden wir mal zuhause Wein trinken. Es war längst dunkel im Flur. Ich erzählte ihm von meinen Begegnungen. „Und? Wann schreibst Du das alles mal auf? Wie wär’s mit Kurzgeschichten?“ Immer wenn wir uns danach wieder trafen, fragte er: „Was macht das Buch?“ Dann zog ich aus. Wir haben uns länger nicht gesehen, wir würden uns nie verabreden. Maxi Leinkauf
H
Horror Nachbarschaft eignet sich vortrefflich für einen fiesen Plot, man denke an den Knallerbsenstrauch. In vielen Filmen beginnt der Horror mit dem (neuen) Nachbarn. Klassisches Beispiel ist Roman Polanskis Der Mieter (1976), wo die Hausgemeinschaft zum Symbol für zersetzenden Wahn wird. Einem grausamen Mord kommt ein Journalist in „Das Fenster zum Hof“ (1954, Alfred Hitchcock) auf die Schliche: Aufgrund eines Beinbruchs immobil, beobachtet er den ganzen Tag seine Nachbarn. Mit Rosemary’s Baby (1968) inszeniert Polanski ein Mietshaus voller verrückter Charaktere und mysteriöser Ereignisse. Etwas lustiger geht es bei der Kinderserie Spuk im Hochhaus (1982) zu, wo Geister (➝ Zausel) einen DDR-Plattenbau auf Goldsuche heimsuchen. Tobias Prüwer
K
Kontrolle, soziale Wer strenge Nachbarn hat, braucht zuweilen keine Polizei, besonders wenn wackere, ordnungsliebende Meiers und Müllers da sind, die „nach dem Rechten sehen“. Wer dazugehört, entscheidet das gewachsene Kollektiv der Alteingesessenen mit eigenem „Wertekodex“. Wer zu sehr ausschert, wird sanktioniert – durch Tuschelei, Ausschluss, Angriff. Die Nachbarschaft als Form der Gemeinschaft, die gerne idealisiert wird und ja tatsächlich auch Vorteile hat, verkehrt sich hier in ihr destruktives, Freiräume eingrenzendes Gegenteil (➝ Paranoia). Die Bürgerwehr, die zur Durchsetzung der nachbarschaftlichen Ordnung auch physische Gewalt und Waffen als legitime Mittel erachtet, ist da letztlich nur die radikalste Ausprägung dieses Phänomens. Benjamin Knödler
P
Paranoia Allen Initiativen (➝ Airbnb) zum Trotz zeigt ein Blick in die Geschichte, dass Nachbarschaft immer auch eins war: ein Ort für pathologische Projektion. Der Nachbar wird prospektiv als Bedrohung empfunden, weil er der mir nächste Fremde ist, der mutmaßlich permanent meinen Lebensstil infrage stellt.
Nachbarschaftsgrenzen sind problematische Gebilde, und in gewissem Sinne kann man das Konzept der guten Nachbarschaft als Bewältigungsstrategie einer fortdauernden Grenzverletzung begreifen. Aus der Psychopathologie weiß man zudem, dass am Anfang einer paranoiden Persönlichkeitsstörung überdurchschnittlich häufig die Verdächtigung des Nachbarn steht. Tilman Ezra Mühlenberg
S
Stille Mein Nachbar M. moniert sich über meinen asynchronen Lebenswandel, wobei es weniger der Lebenswandel als unsere Wohnungstüren sind, die das Ganze bedingen. Beide sind eher ein „Versuch einer Tür“ (Handke fragen!) als eine Tür. So dünn, dass wir mehr voneinander hören, als wir – bei allem Respekt füreinander – wissen wollen.
Stille sei ein Privileg, argumentiert Erling Kagge in seinem wider Erwarten lesenswerten Buch Stille. So ärmer, so weniger betucht, umso weniger habe man die Möglichkeit auf das uns innewohnende Bedürfnis nach Stille. Sichtbar wird der Bedarf danach in der Bahn (➝ Bibliothek): wie viele Menschen mit „noise cancelling“-Kopfhörern sitzen da, um das zu ertragen, was der Kapitalismus uns an Verkehrsgemeinschaft oktroyiert. Stille kostet also Geld. Mein Vermieter ist übrigens Kapitalist (iwo!), er schob daher den lokalen Türmarkt an. Nun haben mein Nachbar und ich neue Wohnungstüren, haben uns aber dadurch ein Stück weit verloren. Jan C. Behmann
Z
Zausel Versuchen wir uns an einer Typologie der schwierigen Nachbarn: Da wären die chronisch den Keller versperrmüllende Lottertante und die nie jemals auf der Straße, dafür aber im Treppenhaus (➝ Block) grüßenden Nachbarn. Da gibt es die jungen WGler, deren Hauptbeschäftigung Videospielen und das Rauchen von chillig stimmendem Pflanzenmaterial ist.
Auf der taxonomischen Hitlist aber rangiert der Zausel ganz oben. Sie wissen schon: dieser meist grau- oder weißhaarige Wirrkopf um die sechzig, der schon lange allein lebt, manchmal mit einer Katze, meist aber mit vielen Bierflaschen. Er sieht zu viel und zu laut fern, und man ahnt, dass er gern ZDF guckt. Kommt man dann jedoch mit dem unheimlichen Zausel ins Gespräch, offenbart er sich meist als feiner Kerl, dem das Leben lediglich ein bisschen zu viel Bitter aufgetischt hat. Marlen Hobrack
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.