Malgorzata und Patrycia stehen hinter ihrem mobilen Bierausschank und frieren. Vor ihnen liegt der vom Regen aufgeweichte Festplatz, von Lampions erhellt. Aus dem Festzelt gegenüber dröhnt leidenschaftliche Blasmusik. Gelegentlich kommt jemand heraus, um sich von den zwei polnischen Schankmädchen ein neues Glas Rübezahl, ein dunkles Starkbier mit 7,8 Prozent, zapfen zu lassen. Die beiden und ihr Reklame-Bus sind Teil der polnischen Abordnung eines seltenen Festivals, das in Reichenbach (Oberlausitz), im östlichsten Zipfel Deutschlands, veranstaltet wird.
Dazu eingeladen sind nicht nur die Partnerstädte Seckach im baden-württembergischen Odenwald und Karpacz im polnischen Riesengebirge. Auch Delegationen aus deren Partnergemeinden sind gekommen: aus dem b
us dem böhmischen Harrachov, aus Gazzada Schianno in Norditalien und dem dänischen Hammel. Sechs Kommunen aus fünf europäischen Staaten feiern die erste "Eurokommunale".Andreas Böer, der Reichenbacher Bürgermeister, ist stolz, dieses Wort kreiert zu haben: "Es drückt genau das aus, was wir erreichen wollen: Europa soll für die Einwohner kleiner Kommunen begreifbar sein." Der pastorale Fünfziger war bis zur Wende Rundfunkmechaniker, seitdem hält er das kommunale Zepter in der Hand, die Reichenbacher nennen ihn anerkennend "Böergermeister". Dass man mit Europa Punkte sammeln kann, beweist die nur 15 Kilometer entfernte Doppelstadt Görlitz/Zgorzelec - im Rennen um den Titel "Kulturhauptstadt 2010" bestreitet sie mit Essen das Finale.Im Zentrum Reichenbachs erhebt sich die Kirche St. Johannes. Als die Hussiten 1430 die Gegend mit Feuer und Schwert verheerten, suchten die Menschen darin Zuflucht und hielten erfolgreich der Belagerung stand. Zur Eröffnung der ersten "Eurokommunale" ziehen alle freiwillig ein, in der Kirche versammelt sich ein veritables Who-is-Who: Bürgermeister Böer rückt in seiner Ansprache "die kleine Kommune an sich" in die Mitte des Kontinents, worin ihm später auch die Amtskollegen folgen. "Europa besteht nicht aus Außenministerien", donnert ein Festredner, "sondern aus Menschen!" Die applaudieren brav und steigen anschließend auf den Kirchturm, der einen Blick auf die sanften Hügel der Oberlausitz gestattet. Wälder und Felder wechseln ab, in der Ferne blüht der Raps. Man sieht die Mittelschule, das Freibad, die Umgehungsstraße - eine ländliche Idylle mit 22 Prozent Arbeitslosigkeit. Dass auch das Gastgeberstädtchen vor einem Jahr mit dem EU-Beitritt der östlichen Nachbarn statistisch wohlhabender geworden ist, hilft bei der Jobsuche wenig. Zu den größten Arbeitgebern gehört das Görlitzer CallCenter von Twenty4Help. Wer großes Glück hat, findet dort etwas, der große Rest sucht woanders - in Dresden, Stuttgart oder München.Am nächsten Tag auf dem Festplatz bleibt der Andrang verhalten, keine Menschenmassen, wie sich das Bürgermeister Böer erhofft hat. Immer wieder fegen Regenschauer den Festplatz leer. Polnische Garköche, deutsche Feinbäcker, der Holzbildhauer mit seinen religiösen Motiven - alle ziehen sich in die Tiefe ihrer Stände zurück. Nur Malgorzata und Patrycia, die Schankmädchen, haben an diesem feuchtkalten Tag im Mai alle Hände voll zu tun. Die beiden Studentinnen aus Jelenia Gora können ein bisschen deutsch, was jedoch für ihre Arbeit nicht zwingend ist: "Ein Bier, bitte" - "Eins zwanzig, danke".Bürgermeister Böer ist dennoch zufrieden. Die Resonanz unter den Einwohnern sei groß, er habe nicht lange um Privatquartiere für Gäste der "Eurokommunale" bitten müssen. Allein aus der Partnerstadt Seckach seien die Feuerwehr und diverse Vereine angereist. Überhaupt: der Bund mit dieser westdeutschen Gemeinde! Im Herbst 1990 besiegelt, folgten schon bald beherzte Taten: Ein junger Verwaltungsbeamter, aus Seckach in den tiefen Osten geschickt, weihte das Reichenbacher Rathaus in die neuzeitlichen Behördentricks ein. "Bei Städtepartnerschaften auf kommunaler Ebene stehen praktische Dinge im Vordergrund", sagt Böer.Am Abend ist das Festzelt endlich voll. Der Seckacher Musikverein lässt schunkeln, was die wackligen Bierbänke hergeben. Bierseligkeit scheint nicht unbedingt Ole Broekners Lebenselixier zu sein. Der dänische Bürgermeister hält sich am Rand und raucht Pfeife. "Europa ist der Kleber, der alles zusammen hält", glaubt er mit säuerlichem Lächeln. Nur die Italiener schunkeln tüchtig mit. Alfonso Minonzio, Bürgermeister von Gazzada Schianno, der an einen graumelierten Filmstar der Nouvelle Vague erinnert, schwärmt: "Hier sieht man nachts noch die Sterne. Bei uns gibt es dafür zu viel Streulicht." Seine Gemeinde liegt im dicht besiedelten Mailänder Speckgürtel.Am nächsten Morgen, einem Sonntagmorgen, rufen die Glocken von St. Johannes zu einem ökumenisch-multilingualen Gottesdienst. Die Kirche ist so voll wie sonst nur zu Weihnachten. Gebete, Fürbitten, Segen - alles wird fünfsprachig zelebriert. Ein polnischer Chor singt jiddische Lieder und setzt zum Abschluss noch einem synkopierten Gospel nach. Beschwingt ziehen die Europäer aus der Kirche, als die Sonne zum ersten Mal während dieser "Eurokommunale" durch die Wolkendecke bricht. Alle schütteln sich freundlich die Hände, es gibt keine Sprachbarrieren mehr, Europa am Sonntagvormittag, der Frühschoppen ruft! Im Festzelt erhebt Bürgermeister Böer ein letztes Mal seine Stimme. Feierlich verliest er die "Reichenbacher Erklärung" - ein von ihm verfasstes Manifest zur europäischen Integration, das seine Amtskollegen danach kopfnickend unterzeichnen. Derweil bauen draußen Malgorzata und Patrycia ihren mobilen Tresen auseinander. Jetzt kommen die Heizspiralen zum Vorschein, die sie in den vergangenen Tagen vor dem Erfrieren gerettet haben, und das kleine Kofferradio, das die Blasmusik aus dem Festzelt übertönen sollte. Sonne spiegelt sich in den Pfützen.