Der 12. Juli 1983 war ein heißer Tag. In mehreren Städten Nordirlands gab es gewalttätige Auseinandersetzungen. Auf der Nordseeinsel Pellworm ging das erste europäische Sonnenkraftwerk in Betrieb. Und angesichts des Milchüberflusses in der EG sollten nun auch bundesdeutsche Kinder von billiger Schulmilch profitieren. Schon zwei Wochen vorher hatten der bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß und der Leiter der Abteilung Kommerzielle Koordinierung im Ministerium für Außenhandel der DDR, Alexander Schalck-Golodkowski, einen Milliardenkredit für die DDR vereinbart. Vieles ist an diesem Dienstag geschehen, doch über eine Massenflucht per S-Bahn in den Westen findet sich nichts im Internet.
Allerdings gab es tatsächlich eine Weiche, über die S-Bahn-Züge vom Bahnhof Friedrichstraße in den Westen fahren konnten, nachdem sie in der DDR repariert wurden. Dass Michael Hartung mit seiner Videothek im Jahr 2019 in Geldnöten steckt, wundert kaum. Und weil bei Fakt Stellen gestrichen werden, braucht Alexander Landmann dringend einen „Knaller“. Wahr ist auch noch, dass dem ehemaligen Eisenbahner Hartung damals der Sicherungsbolzen abgebrochen war. Doch für das, was der Reporter Landmann daraus macht – 127 DDR-Bürgern soll Hartung den Weg in die „Freiheit“ geöffnet haben, und das MfS hat es verheimlicht –, fällt dem nur ein: „Was für ein Scheiß!“
Unwillkürlich denkt man beim Lesen an den Spiegel-Journalisten Claas Relotius, der in der Überzeugung log, „es würde bei der Erzählform Reportage keinen Unterschied machen, ob alles 1:1 der Realität entspricht oder nicht“. Wie aus einer geschickt aufgeschriebenen Geschichte ein Mythos wird, der auf die Wirklichkeit zurückwirkt, zeigt Bestsellerautor Maxim Leo von der heiteren Seite. Widerstrebend zunächst, wächst Hartung in die Rolle hinein, die Landmann ihm auf den Leib geschrieben hat. Als Held vom Bahnhof Friedrichstraße wird er umschmeichelt und verdient bald so viel Geld, dass er aller Sorgen ledig sein könnte. Er widerspricht nicht mehr. Doch dann – so viel Zufall darf sein in einem Roman – begegnet ihm eine Frau, die damals als Kind in ebenjenem Zug gesessen hat.
Sie kehrten freiwillig zurück
Liebe und Gewissensbisse, gekränkter Ehrgeiz und das Verlangen nach Protektion von oben, bei der es ja immer auch um Geld geht – sehr genau leuchtet Leo in das verborgene Beziehungsgeflecht zwischen Persönlichem und Politik. Mit feiner Ironie beobachtet er den Bürgerrechtler Harald Wischnewski, der sich düpiert fühlt, weil nicht er die Rede zu „30 Jahre Mauerfall“ vor dem Bundestag halten soll. Sorgsam Verborgenes erfahren wir von ihm ebenso wie von Holger Röslein, dem Leiter des „Dokumentationszentrums Unrechtsstaat DDR“, der, von Wischnewski angestoßen, nun zu recherchieren beginnt. Er trifft auf Unstimmigkeiten und wird schließlich bei Oberstleutnant Fritz Teubner, dem ehemaligen Sicherheitschef des Bahnhofs, vorstellig. Kapitel 17 ist ein Kabinettstück im Buch: Zwei Männer belauern einander und erkennen sich als ebenbürtig, wenn auch auf verschiedenen Seiten.
Zwei Machtmenschen – viele Gestalten des Buches gehören zu dieser Spezies. Michael Hartung könnte als Berühmter in gewisser Weise zu ihnen aufsteigen, aber er hat gern seine Ruhe und jetzt auch eine Frau, die er liebt. Was wichtig ist im Leben, auch darum geht es untergründig im Roman. Aber vor allem, das steckt schon im Titel, werden jene Klischees verlacht, über die sich Menschen im Osten lange schon ärgern. Dieses kränkende Gerede vom „Unrechtsstaat“, diese unablässigen Bemühungen, ihnen andere Erfahrungen zuzuschreiben als jene, die sie in Wirklichkeit machten. Überaus witzig die Szenen, als Wischnewski, passend zum Jubiläum, in einer Grundschule auftreten soll und ihm der Kragen platzt. Und gar nicht witzig Dr. Antje Munsberg, Leiterin der Abteilung Politische Planung im Bundeskanzleramt, die Wischnewski eiskalt den Unterschied zwischen der kleinen und der großen Wahrheit erklärt. „Die kleine Wahrheit mag hier in dem einen oder anderen Punkt nicht ganz stimmen. Aber die Große Wahrheit, die stimmt: das Gute siegt über das Böse. Das Recht über das Unrecht. Die Freiheit über die Diktatur. Am 12. Juni 1983 sind 127 Menschen aus den Fängen des Kommunismus auf den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gelangt.“ Die Erwiderung von Holger Röslein, dass 120 von ihnen am selben Tag freiwillig in den Osten zurückkehrten, beantwortet sie mit der Bemerkung, ob seine vom Bund finanzierte Institution bei ihm noch „in den richtigen Händen“ sei.
Wie geht die Sache aus? Wird Wischnewski sich damit abfinden, dass Hartung vor dem Bundestag spricht? Und würde der die Wahrheit sagen? Nur so viel sei verraten: Dr. Munsberg wird sich in ihrem Urteil bestätigt fühlen. „Nur Scherereien mit den Ossis.“
Info
Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße Maxim Leo Kiepenheuer & Witsch 2022, 304 S., 22 €
Kommentare 6
"Die Erwiderung von Holger Röslein, dass 120 von ihnen am selben Tag freiwillig in den Osten zurückkehrten, beantwortet sie mit der Bemerkung, ob seine vom Bund finanzierte Institution bei ihm noch „in den richtigen Händen“ sei."
Ja, man muss mit den Wölfen heulen, wenn man in der "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" überleben will.
Das ist die große Wahrheit, hinter der die vielen kleinen Wahrheiten ziemlich unwichtig erscheinen.
Wie viele solche ersponnennen und einfach erlogenen Geschichtchen um die DDR es geben mag, weiß keiner und man wird es nie erfahren, weil es für die BRD-Oberen nur eine Wahrheit gibt:
DDR ganz böse-BRD sowas von gut.
Amen
Es ist doch ein Roman, oder? Das SED-Organ ND verbreitete im Sommer 89 als Tatsache, dass ein Mitropakoch betäubt wurde, um in den Westen verschleppt zu werden und dann als ein Bespiel für die irregeleiteten Tausende, die in den Westen wollten, zu dienen. Das wurde auch als Lachnummer wahrgenommen. Das 120 zufällig im Westen gelangte wieder zurück iun die DDR wollten, hätte sein oder auch nicht sein können. Bei geglückten Flugzeugentführungen entschieden sich jedenfalls nicht nur die Entführer, sondern auch Entführte sich spontan für den Verbleib im Westen. Ein Rückkehrer gab in einer Dokumentation später zu, es bereut zu haben.
Und allein die Mauer bewies, dass die Staatsführung der DDR ihren Bürgern unterstellte, dass die die BRD für sowas besser hielten als ihre DDR.
"Und allein die Mauer bewies,..."
Sie haben wirklich sehr gut verinnerlicht, was man Sie gelehrt hat.
Aber wenn Sie, jenseits der Indoktrination, zu eigenen Gedanken fähig sein sollten, dann kommen Sie vielleicht der Wahrheit etwas näher.
Ein Stichwort: Subventierte Lebensmittel und Dienstleistungen
Interessanter Aspekt, die DDR immer als Unrechtsstaat zu bezeichnen und dies mantraartig zu wiederholen.
In letzter Zeit las ich Christoph Heins "Der fremde Freund", wohl ungefähr von 1983, und Jenny Erpenbecks "Kairos", was in der Endphase der DDR spielt. In beiden Büchern sieht man durchaus die Schwachstellen der damaligen Gesellschaft, die ich aus eigener Erfahrung gar nicht kennen kann. Dennoch war ich eher überrascht von der Normalität des Alltags und den normalen Problemen, die es damit gab. Die von den Protagonisten angesprochenen Ungerechtigkeiten entsprechen dem, was diesseits der Idelogiegrenze als Beweis für das Unrechtsstaatsdogma heralten muss.
So kann man eben sehr gut von den eigenen Ungerechtigkeiten ablenken. Man ruft eben gerne "Haltet den Dieb", während man den Griff noch tief in der fremden Tasche hat.
Soundtechnisch passend dazu wurde in den letzten Jahren ganz viel lecker Ostpunk veröffentlicht, oft mit Hintergrundinfos, Stasiprotokollen und anderem Kriminaltango, Linernotes, Interviews und geilen Fotos.
Leider fehlen wohl die Bands aus dem Westen, die u.a. nach Leipzig ohne Instrumente und Backline anreisten, um dort "Geheimkonzerte" zu absolvieren.
Bitte nicht kaufen, ist schwerstens limitiert und da Vinyl inzwischen schweineteuer ist, spare ich noch drauf.
Bei Gericht ist das auch immer so eine Sache mit der kleinen und der großen Wahrheit:
Sagt der Bolle, er habe nie "Schlampe" gesagt, weil er das Wort als Berliner als viel zu harmlos gar nicht benutzt, und weil er ja meistens selber eine ist.
Das glaubt der meist aus West und inzwischen manchmal auch aus Ost importierte Richter leider Bolle nicht -die "Zeugen" und Opfer kamen aus der Gegend Sachsens, wo nur Hochdeutsch gesprochen wird und wo die Schimpfworte wohl nicht so phantasievoll sind- und wenn dann Bolle als Beweis das viel härtere böse Wort zitiert, bekommt er direkt wahrheitsliebend das Doppelte an Strafe aufgebrummt.
Bolle war immer cool, vor allem am 1. mai 1987, es gibts eine unzensierte Version vom Bollelied, gefunden in einem auf die Strasse gestellten Karton mit Büchern und anderen Platten.
Eigentlich wollten wir nicht gierig alle Platten mit berliner Liedgut einsacken, aber jetzt bereut es keine mehr, auf allen ist das Lied, aber nur auf einer das echte und wenn man das jetzt als Single rausbringen würde, würde es verboten werden.
"Aber wenn Sie, jenseits der Indoktrination, . . . "
Mir wurde in der DDR nur (permanent) gelehrt/indoktriniert, dass die DDR DAS überlegendste System ist, von dem die Menschheit seit Jesus Christus träumt. Leider haben die Ossis den Wessis das nicht überzeugend beigebracht und so müssen nun ALLE, auch die Wessis, ohne dieses Paradies dahinvegetieren und die Autoren des Freitag weiter Beiträge verfassen, anstatt sich in der Braunkohle zu bewähren.
Die Geschichte hat ihr Urteil über den realen Kommunismus gefällt. Von Magdeburg bis Wladiwostok
"Ein Stichwort: Subventierte Lebensmittel und Dienstleistungen"
Übrigens: Schrippe für 5 Ost-Pf und Straßenbahn für 20 Pf sind auch für Ossis nicht das alleinige Kriterium für Paradies.
Allerdings: Die kapitalistische Wohnungspolitik ist heutzutage dringendst reformbedürftig!