Nachwenderoman: Allen auf die Fresse

Debüt Schon wieder ein Nachwenderoman? Nicht nur das. Denn Domenico Müllensiefens Romandebüt „Aus unseren Feuern“ ist auch ein grandioser Arbeiterroman
Ausgabe 10/2022
August 1990 in Leipzig: Aufnahme von der letzten Montagsdemo
August 1990 in Leipzig: Aufnahme von der letzten Montagsdemo

Foto: Michael Hughes/IMAGO

Thomas, Karsten und Heiko sind eine Gang. Sie hängen ab, glotzen am Baggersee heimlich Nackedeis hinterher und träumen von einer eigenen Karre. In einem Sommer Ende der 1990er kommen sie auf die Idee, ihre Schulbücher abzufackeln. Als das rauskommt, bestellt der Direktor ihre Eltern ein. Die haben aber ganz andere Sorgen als dessen Bücherverbrennungsmoral. Karstens Mutter fehlt das Geld, um die Bücher zu ersetzen, Thomas’ Vater will sich nicht von einem Wessi die Welt erklären lassen und Heikos Vater meint, dass die Bücher möglicherweise sowieso bald zensiert würden. Warum man Schulbücher zensieren sollte, fragt verdutzt der Direktor, woraufhin Schlachter Meier vollends der Kragen platzt: „Was Persberg sagen will, du Witzfigur, ist, dass sich hier jederzeit alles ändern kann.“ Auf fünf Seiten findet man hier alles, was man zum gestörten Verhältnis zwischen Ost und West wissen muss. Jede Stimmlage, jeder Ton und jedes Wort passen in dieser Szene wie die Faust aufs Auge.

Aus unseren Feuern erzählt von den Nachwendejahren im Osten aus der Perspektive eines jungen Mannes. Der wird im Sommer 2014 als Bestatter zu einem Unfall gerufen. In der Leiche, die neben einem völlig zerstörten Auto liegt, erkennt Heiko seinen Jugendfreund Thomas wieder. Sofort beginnen die Geister der Vergangenheit zu tanzen ...

Das rasante Debüt von Domenico Müllensiefen reiht sich ein in die literarische Aufarbeitung des Rechtsrucks der ausgehenden 1990er, die der Journalist Christian Bangel die „Baseballschlägerjahre“ nannte. Daniel Schulz und Rapper Hendrik Bolz haben lesenswerte Romane zur rechten Subkultur auf dem Land vorgelegt (der Freitag 6/2022). Aus unseren Feuern schaut nun in die Stadt, nach Leipzig, wo der Autor seit Jahren lebt, arbeitet und schreibt. Diese Tätigkeiten zu trennen, ist wichtig, denn vor dem Schreiben war das Arbeiten. Müllensiefen, Jahrgang 1987, hat in Magdeburg eine Ausbildung zum Systemelektroniker absolviert, ging später ans Leipziger Literaturinstitut und jobbte nebenbei. Seine Erfahrungen auf dem Bau und in der Leichenhalle leben detailliert und plastisch in seinen Figuren auf. In all seinen Dimensionen ist Aus unseren Feuern mit dem Arbeitermilieu verbunden. Es wird geraucht, gesoffen und gepöbelt, die Arbeit ist ein festes Ritual, bei dummen Fragen gibt’s eine Schelle. Und zugleich ist unter dieser aufgesetzten rauen Schale eine große Zärtlichkeit.

Das ruft unweigerlich Clemens Meyer und sein Frühwerk in Erinnerung. Müllensiefens Roman lebt wie dessen Prosa vom sprachlichen Zugang zur Welt. Der Autor zeigt, was war. Ganz konkret macht er die vielfache Erfahrung der Fremdbestimmung und des Identitätsverlusts der einfachen Leute in Ostdeutschland begreifbar, aus der heraus Wut gegen die etablierte Ordnung erwuchs.

Stasi, Staat, Frau: weg

Der Fußball als Sport der Arbeiterschicht spielte dabei eine besondere Rolle. Mannschaften wie Lok Leipzig, die Ende der 1980er noch im Europacup gegen Ajax Amsterdam und den SSC Neapel spielten, kickten plötzlich in der 2. Liga gegen Saarbrücken oder Mannheim.

Es sind gebrochene Biografien in dieser Stadt im Aufbruch. Das betrifft nicht nur die drei Jungs, deren Wege sich trennen und teils in rechte Kreise laufen, sondern auch die Nebenfiguren. Da ist etwa Jana, Heikos erste Freundin. Sie ist wegen ihres Vaters geblieben, von dem es lakonisch heißt: „Irgendwann waren Stasi, Staat und Frau weg, dieses Loch füllte jetzt der Alkohol.“ Oder Mandy, Heikos heimlicher Schwarm aus Schulzeiten, die von einem Tag auf den anderen in den Westen verschwand. Jahre später sitzt Heiko bei einem Bewerbungstraining der Arbeitsagentur neben ihr. Er erfährt, wie sie im Westen belächelt und hintergangen wurde, so dass ihr nur der demütigende Rückzug in die Heimat blieb.

Müllensiefen verklärt seine Figuren nicht als larmoyante Wendeopfer, erhebt sich aber auch nicht über ihre Erfahrungen. Sie alle kämpfen in einem System, dessen Spielregeln sie erst im Ring erlernen. Dabei bekommen alle auf die Fresse und teilen auf ihre Weise aus.

Info

Aus unseren Feuern Domenico Müllensiefen Kanon Verlag 2022, 336 S., 24 €

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