Wenn man sich die Werdegänge von Autorinnen ansieht, fällt zu Beginn ihres Schreibens häufig ein autobiografisch motiviertes Thema auf, das im gelungenen Fall zu einem exemplarischen wird: Die Beziehung zwischen Vater und Tochter. Zur langen Reihe entsprechender Bücher gehören etwa Elisabeth Plessens Mitteilungen an den Adel oder Birgit Vanderbeke mit ihrem Roman Das Muschelessen. Warum arbeiten sich viele Autorinnen zunächst immer wieder an der Figur des Vaters ab? Es geht um Abrechnung mit dessen Autorität, um den Versuch der Selbstverständigung: Von da und dort kommt man, ist so und so beeinflusst, will sich abgrenzen. Es geht darum, prägende Muster nachzuzeichnen und/oder sie aufzubrechen. Alles noch einmal selbst anordnen, sich selbst, und
en, sich selbst, und sei es auf dem Papier, zum Subjekt des Geschehens machen. Mit ihrem Schreiben betreten die Töchter gleichzeitig den "väterlichen", den symbolischen Bereich, den der Sprache.Katrin Dorn und Anke Velmeke, beide Jahrgang 1963, haben jetzt das je Ihre zur Vater-Tochter-Thematik beigetragen. Sie haben das Geburtsjahr gemeinsam, im übrigen gibt es in der Herkunft der Autorinnen einen Gegensatz, der nach Klischees geradezu schreit: Katrin Dorn kommt aus Ost-, Birgit Velmeke aus Westdeutschland. Aber man würde beiden Autorinnen Unrecht tun, wollte man sie auf die Differenz Ost-West festlegen: Die Enge der Kleinfamilie findet sich da oder dort. Dass "die" ehemalige DDR bei Katrin Dorn eine größere Rolle spielt als die damalige BRD bei Anke Velmeke, ist wahrscheinlich unvermeidbar, denn Katrin Dorns Geschichte zieht sich bis in die Gegenwart, und man findet gelegentlich Anspielungen auf den Systemwechsel. Katrin Dorn hat einen eingängigen, oder soll man sagen schlichten Romanplot gewählt; das Sterben des Vaters ist Anlass für seine Tochter Vera, nach Hause in ein Dorf zu fahren; eine Reise in die eigene Vergangenheit. Natürlich geht es dabei auch um die Befindlichkeit der erwachsenen Verwandten, die so oder so unter dem Leben in der DDR litten. Der Vater, der im Roman nur eine undeutliche Kontur erhält, war ein wortkarger Mensch, um dessen Zuneigung sie als Kind und Jugendliche auf teilweise peinliche Weise geworben hatte und den sie gleichzeitig fürchtete, auch wenn sie wusste, dass er diese Furcht nicht mochte. Am Krankenhausbett des sterbenden Vaters entschuldigt sich Vera für das, was sie ihm möglicherweise oder tatsächlich angetan beziehungsweise nicht getan hat, und auf seine Antwort hin fällt sie in Ohnmacht. Der Vater stirbt; die sehr viel genauer gezeichnete entsetzlich fühl- und taktlose Mutter peinigt ihre Tochter noch eine Weile, bevor Vera dann zurück in die Stadt fährt, zu ihrem Freund Vincent, einem Westler, einem Psychologen.Der Roman entwickelt sich zu einem immer schneller werdenden, fulminanten Psychodrama zwischen dem Liebespaar und ein paar anderen Figuren, darunter Vincents Eltern. Im Kern aber geht es um Lügen und Schweigen, es geht um Verdrängen und um das schmerzhafte Wiederbeleben, es geht um die letzten Worte von Veras Vater, die sie nicht erinnert. Dass die Protagonistin gegen Ende des Romans vermutet, schwanger zu sein, und nicht weiß, ob Vincent der Vater ist, macht das Reden mit ihm, der so überaus bemüht ist, ihr zu helfen, nicht leichter. Aber sie strengen sich an; schließlich bricht der letzte, unerhört abweisende väterliche Satz aus Vera heraus, und prompt setzt die ausgebliebene Menstruation ein, "ihr Körper gibt nur frei, was er viel zu lang festgehalten hat."Mag sein, dass die Dinge manchmal so funktionieren. Aber respektlos könnte man auch sagen: So springen anderswo Kaninchen aus Zylindern. Die Protagonistin ist am Ende des Buches erwachsener geworden, sie setzt Vincents psychologisches Wissen für sich selbst ein und lernt zwischen ihren und ihres Vaters Gefühlen zu trennen; beinahe lehrbuchhaft deutet sich also ein Happyend an. Der Roman ist stark konstruiert, man kann sich mitunter störrisch fragen, ob denn seine Struktur so sein muss, wie sie ist. Muss dem Vater noch die Königsmetapher angehängt werden? Muss es den bedeutungsschweren Gegensatz zwischen Vera und Vincent geben? Hier Mann, redemächtiger Westler, Psychologe, da Frau, schweigsame ostdeutsche Blumenverkäuferin? Muss es zur ost-westdeutschen Einigung kommen, zum gemeinsamen Kinderwunsch - welche Vorgaben werden denn hier, wenn auch in aller Vorsicht, befolgt?Den Zweifel an einer zu straffen Konstruktion wirft der Roman der gleichaltrigen Anke Velmeke nicht auf. Hier kann man sich im Gegenteil nach der ersten Lektüre fragen, ob sie ihr Thema nicht zeitweilig aus den Augen verliert; oder ob ihr Schweifen beabsichtigt ist. Das Buch spielt hauptsächlich in den siebziger Jahren. Zeitgeschichte spielt kaum eine Rolle, höchstens, dass einmal das Wortungeheuer der "Antiatomkriegsmahnwache" auftaucht. Luftfische heisst Anke Velmekes wagemutiger Roman, und so schwer fassbar und beweglich, wie man sich einen solchen "Luftfisch" gern denkt, ist er auch; man muss sich allerdings in die Sprache hineinlesen. Es geht hier weniger um eine breit angelegte Story, die dann ausgemalt wird, als um ein Anreißen von Figuren und Befindlichkeiten. Lene ist 13 Jahre alt, sie hat zwei Brüder, eine eingeschüchterte Mutter und einen Vater, der Dachdecker von Beruf ist. Wenn der Roman auf etwas hinausläuft - aber man hat den Eindruck, er kreist lieber -, dann ist das sicherlich nicht, so wie bei Katrin Dorn, etwas wie Aussöhnung. Bei Anke Velmeke bleibt eine provozierende Offenheit.Lenes Vater ist ein typisches Oberhaupt, das die Familie tyrannisiert, und zwar in der schauerlich unberechenbaren Mischung aus Gunsterweisungen und Gewalt gegenüber Frau und Kindern. Mal ist er der Ohren-Wackler, der seine Familie mit den sich vor- und zurückbewegenden Ohren erfreut; aber "wenn der Ohrenwackler zuschlug, konnte mitunter eine Suppenschüssel zu Bruch gehen". Es gibt eine lebendige, anrührende Sequenz, in der Lene als Kleinkind auf ihres Vaters Fuß sitzt und er so mit ihr umher geht, ihr fliegt der Fahrt- oder Flugwind um die Ohren und sie, als sein "Klotz am Bein" spürt wohl Glück - aber natürlich schleudert er das Kind irgendwann weg. Anke Velmeke verknüpft realistisch gezeichnete Situationen mit traumhaft unwirklichen, und die Abrechnung ihrer Protagonistin mit dem Vater läuft sozusagen auf der Meta-Ebene des Textes: Der Vater spielt immer wieder einfach keine Rolle, Lene sieht schon relativ anfangs einfach durch ihn hindurch, als sei da niemand; im zweiten von drei Teilen taucht er nicht auf, und in Teil drei, gegen Ende, gibt es ihn zwar, aber er ist völlig gleichgültig.Das Interesse verlagert sich auf die sterbende Mutter; es ist, als sei man in einem anderen Buch. Das ist kühl und kunstvoll gemacht, geht aber natürlich gegen Lesegewohnheiten. Auch die Schreibweise ist, im Unterschied zu Katrin Dorn, die eher konventionell erzählt, schwer fassbar, sie changiert fließend leicht zwischen konkreten und abstrakten Bildern. Leider tauchen zwischendurch dann auch Manierismen auf: Bürgersteige verlaufen "schnurkerzengerade", und es gibt Socken, die "fußgefüllt" sind. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Vaterbüchern liegt in ihrem Anspruch. Katrin Dorn betreibt psychologische Reflexion, ihre realistisch gezeichnete Hauptfigur lädt zur Identifikation ein, zum Mitempfinden. Anke Velmeke verzichtet dagegen auf psychologische Reflexion, sie geht auf Abstand, sie geht bis ins Verspielte, Groteske. Man könnte auch sagen: Lügen und Schweigen ist ein Roman, der geradeaus geht, trotz aller Windungen der Protagonistin. Luftfische dagegen ist eher subversiv angelegt, als ein Sabotageakt. Ob die Autorinnen während ihrer Schreibarbeit auch einmal gelacht haben? Einige Passagen in beiden Büchern lassen das annehmen. Und es ist anzunehmen, dass es ein schauderndes Lachen gewesen sein wird, ein Lachen, das mehr oder weniger nahe beim Schrecken liegt.Katrin Dorn: Lügen und Schweigen. Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 208 S., 32,- DM Anke Velmeke: Luftfische. Roman. C.H. Beck-Verlag, München 2000, 156 S., 34,- DM
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