Narrenfreiheit

IM KINO "Karnaval" von Thomas Vincent zeigt die zähen und zarten Bande, die uns mit denen verbinden, die uns im Rauschzustand erlebt haben

Unter Alkoholeinfluss verengt sich das Sehfeld". Der Bildausschnitt kann alles sein: Im müden Trott heimkehrender Jäger kommen vier schwarzhäutige Männer einen Sandhügel herunter. Mit Lanzen, Lendenschurz und ohne Beute. Der Sandhügel ist eine Vorstadtdüne im nord-französischen Dunkerque, wo es die meiste Zeit regnet, aber nicht immer, und wo einmal im Jahr der Karneval die ganze Stadt zum Narren hält.

Der König kann nicht mehr. Die Königin hat schwer zu schleppen an der müden Last des Gatten. Es hilft ein wackrer Ritter ihr, der just im Schlosshof Schutz vor dem Gewitter suchte. Der König sinkt mit einem Furz in die Laken, der Ritter erntet einen Kuss von den schminkeverschmierten Lippen der Königin. Ihren Hut nimmt er als Pfand. Am nächsten Tag verschafft der Hut dem Ritter einen Vorwand, ein weiteres Mal vorzusprechen. Der König, in Zivil und nüchtern, wittert mit dem Pfand auch gleich den Kuss, der ihm gestohlen, die Königin sucht Zuflucht in den bröckelnden Kulissen: Es ist Karneval, da ist ein Kuss so gut wie nicht geküsst. Dennoch tobt der König, der Ritter flieht. Er kennt zwar die Gebräuche dieses Landes, doch er teilt sie nicht. Er ist ein Don Quixote, zwar unverkleidet, aber doch bewandert in der Kunst, zu tun als ob.

Ohne den Schutz der Narrenfreiheit, die ihr das Kostüm verschaffte, wird die Königin zur Hausfrau. Don Quixote stellt sie beim Windelkauf zur Rede und erkennt in ihr auch ohne Maskerade noch die Dulcinea, die ihm für seinen Aufbruch in ein neues Leben fehlte. "Geh mit mir fort von hier!", sagt er ihr ritterlich ins übermüdete Gesicht. Nur meint er, was er sagt.

Dunkerque scheint eine gute Kulisse für ein "fort von hier". Marseille, das andere Meer, das warme, ist aber weit. Und auch der Karneval ist ja ein "fort von hier" für drei Tage. Das Lächeln auf den Lippen also aufgemalt, die Krone aus Stanniol, der König Gabelstaplerfahrer.

Um seine hehren Ziele zu behaupten, muss der Ritter mitspielen. Im Karneval fällt, wer es ernst meint, sofort als Spielverderber auf. Perücke also auf den Kopf, die Lieder mitgesungen und hoch die Tassen. Auch der Film hakt sich bei den Narren unter und ergibt sich erst einmal der Dramaturgie aus kleinen Fluchten, großen Tönen, Rumgeschubse und Erschöpfung. Mit der Intuition des Berauschten bleibt er dabei aber dem kleinen Drama auf der Spur, das sich in dem allzulauten Lachen der aufgemalten Münder verrät. Die Kamera ist jedoch nicht das Auge des Inquisitors, der nur darauf wartet, den hilflos Delirierenden "Alles Lüge!" ins Gesicht zu schreien. Trotz aller Peinlichkeiten, die ihr nicht entgehen, kündigt sie den Menschen hinter den Masken nicht die Solidarität. Die Schminke schwimmt am Ende ganz von selbst, vom Schwitzen, Saufen, Heulen, da braucht der Film nicht wütend reißen.

Zwar interessiert sich Thomas Vincent für das, was mit verräterischer Euphorie hinuntergespült werden soll, die Realität also hinter der Fassade. Aber er tut gut daran, sich nicht zum Moralisten aufzuschwingen. Denn auch der Aschermittwoch gehört zum Spiel, und die Einsicht der Ernüchterung ist nur dem vergönnt, der vorher mitgesoffen hat. Und wer will denn am Morgen den Saufkumpanen der letzten Nacht seine Kater-Weisheiten aufzwingen? Schon beim nächsten Mal wäre es verdächtig, und Karneval ist schließlich jedes Jahr. Es ist nicht ohne Grund, dass uns mit denen, die uns im Delirium gesehen haben, ein besonders zähes Band verbindet.

Mit der Ernüchterung kommt also nicht das große Reinemachen. Vieles ist passiert in dieser Nacht, wenig wird sich jedoch verändert haben. Keine Revolution, aber auch keine Kapitulation. Für das unweigerliche Weiter bleibt allen die zähe Solidarität der Saufkumpane und gegenüber den nüchternen Realitäten immerhin ein Trotzdem, also ein erschöpfter Trotz. Mit diesem Trotz schauen sie sich nachher ins Gesicht, das drei Tage lang unter der Maske juckte. Der Trotz gilt dabei allem: Der Gabelstaplerfahrer wird sich nächstes Jahr noch trotziger die Königskrone aufsetzen, die ihm dieses Jahr den Job gekostet hat; die Königin verlässt ihn trotzdem nicht, der Ritter fährt trotzdem nach Marseille und "Karnaval" ist trotzdem wert, gesehen zu werden.

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