Nashörner

A–Z Auf Java glaubte Marco Polo noch, ein hässliches Einhorn zu sehen, Wittgenstein schloss nicht aus, es könnte eines unterm Sofa sein: Unser Urviech-Lexikon
Ausgabe 03/2018
Nashörner

Foto: Lisa Schaeublin/Natural History Museum of Bern/AFP/Getty Images

A

Adorno Dass der Philosoph gern in den Frankfurter Zoo ging, wo er das Hängebauchschwein besuchte oder für die Anschaffung eines Wombat-Pärchens plädierte, und auch um Zoohandlungen keinen Bogen machte, konnte man jüngst dem entzückenden Roman Wiesengrund von Gisela von Wysocki entnehmen. Darin faszinierte Adorno das Chamäleon.

Eine Leidenschaft für Tiere lässt sich auch an den Spitznamen ablesen, die Adorno sich selbst und seinen Freunden und Liebsten gab: von Teddie über Mammut bis zum Wundernilstutentier (gemeint ist seine Mutter, Einhorn). Aufgehoben wurde diese Tierliebe in seiner Philosophie, die sich kritisch mit dem, was man den modernen Menschen nennt, beschäftigte. Der hat seine gebrochene, gewaltsam gegen die Natur erzwungene Identität. Anders das Tier, das ja Teil dieser Natur ist. „‚Ich bin ein Nashorn‘, scheint das stumme Tier zu sagen“, schreibt Adorno in der Ästhetischen Theorie. Das Nashorn ist ganz bei sich. Wir nicht. Das Nashorn will nichts, es ist „intentionslos“. Wir dagegen möchten immer etwas. Zum Beispiel ein Nashorn oder ein Eisbär sein. Michael Angele

Anthropomorphismus War er das heimliche Vorbild Loriots (Gedicht)? Ähnlich wie Vicco von Bülow hat auch Friedrich Seidenstücker (1882 – 1966) Mensch und Tier mit subtiler Komik dargestellt. Vor allem in der Zwischenkriegszeit lichtet der Fotograf in Berlins Zoologischem Garten Besucher ab, die sich verrenken und die schrägsten und unvorteilhaftesten Positionen einnehmen, etwa sich ganz lang machen oder den Po nach hinten drücken, um die Tiere besser zu sehen oder zu fotografieren. Seidenstücker nimmt immer wieder die Perspektive der Tiere ein und macht sie so quasi zu Beobachtern des exotischen Wesens „Mensch“, aber auch der anderen Zoobewohner. „Was für ein scheußliches Tier!“ heißt etwa ein Schwarzweißfoto: Zwei Nashörner stehen im Gehege, die Köpfe nahe beieinander, und blicken zu ihrem Gegenüber auf der Besucherseite, das durch einen Graben von ihnen getrennt ist: Dort steht ein Nilpferd. Behrang Samsami

D

Dürer Im Jahr 1515 war es die Sensation: In Lissabon ging ein Schiff mit einem Indischen Panzernashorn vor Anker – das erste Nashorn, das man in Europa seit der Römerzeit gesehen hatte. Skizzen und Beschreibungen des Tiers gelangten nach Nürnberg zu Albrecht Dürer, der mit den Vorlagen seinen berühmten Holzschnitt anfertigte: die Mutter aller Nashorn-Darstellungen (Naseinhorn).

Dürers Nashorn ist eine extreme Komposition, die nicht nur wissenschaftliches Interesse offenbart, sondern auch ein Staunen über das unbekannte Wesen. Die Panzerung des Tiers ist fantastisch – viele Details entsprechen nicht der Natur. Dennoch oder gerade deswegen ist sein Nashorn ein Klassiker der Kunstgeschichte. Vor kurzem wurde ein frühes Exemplar des Holzschnitts für mehr als 860.000 Dollar bei Christie’s in New York versteigert. Dürers Werk hat das Nashorn unvergessen gemacht. Das Tier selbst jedoch starb qualvoll: Der portugiesische König Manuel I. hatte es Papst Leo X. zum Geschenk gemacht und wiederum auf Reisen geschickt. In Rom traf es nie ein. Das Schiff mit dem wilden, gefesselten Tier sank auf dem Weg. Marc Peschke

E

Einhorn In seinem Reisebericht Die Wunder der Welt erzählt Marco Polo auch davon, wie ihm auf Java Einhörner begegneten: Kaum kleiner als Elefanten seien die, pelzig, ein dickes schwarzes Horn auf der Stirn. „Zum Ansehen ist es ausgesprochen hässlich“,schreibt er. Trotz der Diskrepanz zwischen diesen Biestern und dem, was man daheim von den zartgliedrigen Fabeltieren erzählte, fiel es dem Reisenden nicht ein, die Wunderwelt der Tiere mit einer neuen Art zu bereichern.

Eher musste sich die allgemeine Vorstellung vom Einhorn ändern. Marco Polo gelang es zum Glück nicht, das Bild vom Einhorn dauerhaft zu prägen. In den Sonnenuntergang fliegende Rhinos sähen auch zu bescheuert aus. Mladen Gladić

G

Gedicht Als Fan des Komikers Heinz Erhardt kommt mir unwillkürlich folgendes Gedicht in den Sinn: „Ein Nasshorn und ein Trockenhorn spazierten durch die Wüste, da stolperte das Trockenhorn, und’s Nasshorn sagte: ,Siehste!‘“ Dank seiner Kürze und Komik blieb es mir im Gedächtnis und ist das einzige Gedicht, welches ich in vollem Umfang fehlerfrei wiedergeben kann. Trotz der oberflächlich leicht verständlichen Verball(nas)hornung lässt das Gedicht einen mit offenen Fragen zurück: Was passierte vor der beschriebenen Situation? Woher wusste das Nasshorn von der nahenden Gefahr? Wieso nahm das Trockenhorn die Warnung des Nasshorns nicht ernst? Gabor Farkasch

J

Jumanji Um die Herausforderung, erwachsen zu werden, zu meistern, gilt es, die eigenen Ängste zu konfrontieren. Das Trommeln lockt die Ahnungslosen zum Brettspiel. Das ist Jumanji, der Kinohit von 1995 mit Robin Williams als Junge im Manneskörper in der Hauptrolle. Mit dabei: Kirsten Dunst als professionelle Teenie-Lügnerin. Auf dem Filmplakat wird Williams fast von Nashörnern zertrampelt. Denn in Jumanji bricht Zug um Zug der Dschungel in die US-amerikanische Idylle ein. Zwei Erwachsene und zwei Kinder müssen unbedingt zusammenhalten, um zu überleben (Rettung). Ich war neun, als der Film in die deutschen Kinos kam. Jetzt, 22 Jahre später, läuft die Neuauflage: Jumanji – Welcome to the Jungle. Die Grundidee ist dieselbe. Diesmal wurde von Brettspiel auf Videogame modernisiert. Vier Jugendliche spielen Avatare, mit denen sie den Dschungel und die trampelnden Nashörner meistern. Johanna Montanari

K

Kommunikation Zwischen Rechtspopulismus und sozialer Kälte gibt es Tage, an denen man soziale Netzwerke getrost als „einen riesigen Haufen Scheiße“ bezeichnen kann. Die Nashörner – den Menschen in ihrer Digitalkompetenz offenbar weit voraus – haben das schon vor Urzeiten erkannt. Denn laut National Geographic wickeln Nashörner ihre Kommunikation (Adorno) fast ausschließlich über echte Scheiße ab. Sie gibt der Gruppe wichtige Informationen über Alter, Geschlecht, Gesundheit und Fortpflanzungsstatus der Artgenossen. So besuchen etwa männliche Alphatiere öfter Haufen, wenn dort zuvor paarungsfähige Nashorndamen gekotet haben – übrigens rund 25 Kilogramm pro Tag. Das alles klingt zwar ekelig, liefert aber für unsere sozialen Netzwerke zahlreiche hilfreiche Erkenntnisse. Erstens: Vieles, was online geschrieben wird, ist meistens nur gequirlte Scheiße. Und zweitens: Wir sollten deutlich vorsichtiger mit dem Wort „Shitstorm“ umgehen. Simon Schaffhöfer

N

Naseinhorn Manchmal hilft ein Perspektivwechsel. Als vor zwei Jahren im Berliner Martin-Gropius-Bau die Ausstellung Der Britische Blick: Deutschland – Erinnerungen einer Nation gezeigt wurde, erkannte ein kleines Mädchen Albrecht Dürers ikonisches Rhinozeros instinktiv als das, was es ist: „Ein Naseinhorn“ rief es begeistert, als es das Porzellantier sichtete,das die Meißner Porzellanmanufaktur seit 1731 nach Dürers Vorbild gießt. Der Karl May der Tierdarstellung fertigte seinen Holzschnitt 1515 ohne eigene Anschauung des seinerzeit in Marseille und Rom als Sensation vorgeführten Indischen Panzernashorns, und so sitzt auf dessen Rücken ein fein gezwirbeltes, spitzes Horn. Was soll man sagen: Es steht ihm ganz fabelhaft. Christine Käppeler

R

Rettung Das tennisballgroße, ins Horn des stämmigen Tieres gebohrte Loch erinnert an leidvolle Bilder verstümmelter Nashörner, soll jedoch das Gegenteil bezwecken. Und zwar die Rettung der von Wilderei bedrohten Population (Zucht). Ein Mikrochip wird hier eingepflanzt, der per GPS die Position des Tieres verfolgt und bei Verlassen eines festgelegten Gebietes Alarm schlägt.

Alternativ injizieren Tierschützer einen für den Menschen giftigen Farbstoff in das Horn, der unter dem Sicherheits-Scan am Flughafen sichtbar wird. Neuerdings kann Nashornpulver mit einer DNA-Datenbank abgeglichen und zugeordnet werden, das ermöglicht eine effektivere Strafverfolgung der Wilderer. Für das Rhinozeros persönlich ist es dann bereits zu spät. Rebekka Gottl

W

Wilderer Mal wieder ist es der Glauben an die Potenz des Phallischen, der eine Art dran glauben lässt. In der chinesischen, „traditionell“ genannten Medizin gilt das Horn des Nashorns als Allheilmittel. Es soll, zu Pulver zerstampft, gegen viele Krankheiten helfen, sogar gegen Krebs, und die menschlichen Abwehrkräfte stärken – eine Logik wie in der Homöopathie. Klinische Beweise bestätigen in puncto Wirksamkeit eine glatte Null.

Ungeachtet dessen schwören viele Menschen in China und Vietnam auf diese Medizin – der Schmuggel dorthin blüht. Weil zwei von drei einheimischen Arten in Asien komplett ausgestorben sind, wird besonders in Südafrika gewildert, wo 70 Prozent der afrikanischen Nashörner leben. Den interkontinentalen Schmuggel (Naseinhorn) machen trotz weltweiten Verbots die riesigen Margen verlockend. Bis zu 80.000 Dollar kann ein Kilo kosten. Darum gilt Nashorn auch als Statussymbol. Tobias Prüwer

Wittgenstein Zwischen dem Philosophen (Adorno) und seinem Lehrer Bertrand Russell kam es über ein Nashorn zum hitzigen Argumente-Austausch. Der Schüler behauptete, jeder Beweis dafür fehle, dass kein Nashorn im Zimmer sei. Russell schaute sogar unterm Sofa nach, überzeugen konnte er den Jüngeren nicht.

Das Tier dient hier natürlich nur als Platzhalter für schwer beweisbare, logisch ebenso wenig komplett auszuschließende Phänomene wie Gott, Aliens, Moral. Als Geheimagenten nun lassen Françoise Armengaud und Annabelle Buxton den Philosophen im illustrierten Kinderbuch Wittgensteins Nashorn (Diaphanes 2015) auftreten. Vor dem Hintergrund eines beginnenden Weltkrieges machen sie dessen Sprachphilosophie in einer feinen Einführung im Ansatz greifbar. Zum Beispiel, dass verschiedene Lebensformen in verschiedenen, unübersetzbaren Welten und Weltbildern hausen. Wittgenstein meinte: „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.“ Er hätte das auch fürs Nashorn bejaht. Tobias Prüwer

Z

Zucht Die Arterhaltung der bedrohten Tiere liegt unter anderem den zoologischen Gärten am Herzen. Der Berliner Zoo arbeitet im EEP (Europäisches Erhaltungszuchtprogramm) für Spitzmaulnashörner mit. Vor fünf Jahren konnte die Nashornkuh Zawadi in Tansania ausgewildert werden. 2016 brachte sie ihr erstes Jungtier zur Welt.

Nicht immer ist der Zoo ein sicherer Ort für die Tiere. Die Jagd auf das Horn hat die Metropolen erreicht. Im vergangenen Jahr erschossen geldgierige Wilderer den Nashornbullen Vince im Pariser Zoo, sägten ihm ein Horn ab und flohen mit ihrer Beute. Ein hochumstrittenes „Zuchtprogramm“ mit dem Ziel der planmäßigen „Hornhauternte“ setzt ein südafrikanischer Millionär um. Auch er argumentiert mit dem Artenschutz. Die Tiere bleiben am Leben, aber es geht natürlich um Profit. Magda Geisler

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