Was für ein banaler Anlass und was für eine Eskalation: Nachdem einige Auftritte türkischer Politiker hierzulande verboten wurden, hauptsächlich wegen angeblicher Sicherheitsbedenken, griff der türkische Präsident prompt zur schärfsten Waffe, dem NS-Vorwurf. Die Verbote, so behauptet Erdoğan maßlos überzogen, seien „nichts anders als das, was in der Nazi-Zeit getan wurde“. Die Ironie der Geschichte: Faktisch kommen diese Verbote Erdoğan höchst gelegen, bedienen sie doch den gängigen „Opferkult“ – hier die arme unterdrückte Türkei, dort der arrogante Westen, an der Spitze das reiche Deutschland. Deshalb warnt selbst die prokurdische HDP davor, rhetorisch weiter aufzurüsten und Erdo&
doğan damit in die Hände zu spielen. Von einer „ungeheuerlichen Entgleisung des Despoten vom Bosporus“ zu sprechen, wie es CSU-General Andreas Scheuer tut, ist dagegen denkbar kontraproduktiv.Nein, nicht rhetorische Eskalation, sondern Abrüstung ist gefragt. Denn weit relevanter, aber auch weit komplizierter als der unsägliche Nazi-Vergleich ist das dahinter liegende deutsch-türkische Verhältnis. In der Bundesrepublik leben derzeit rund drei Millionen Menschen türkischer Herkunft und wie auch immer das Verfassungsreferendum am 16. April ausgeht, eines steht schon fest: Ein erheblicher Teil von ihnen wird die Türkei auch künftig als ihre eigentliche Heimat ansehen. Hinzu kommt: Die Türkei bleibt NATO-Mitglied und zudem von entscheidender Bedeutung beim Schutz der europäischen Außengrenzen.Das aber verweist auf das Grundproblem: Die deutsche Regierung agiert derzeit nicht wirklich unabhängig. Echte Entscheidungsfreiheit, sowohl Deutschlands als auch der EU-insgesamt, sieht anders aus. Heute rächt sich, dass die europäischen Spitzenpolitiker nicht längst die zentralen außenpolitischen Fragen eines jeden Gemeinwesens in Angriff genommen haben: äußere Sicherheit und gesetzlich geregelte Einwanderung.Faktisch hat sich die EU viel zu sehr in die Hände einer Pseudo-Demokratie wie des Erdoğan-Regimes begeben. Wie aber sollte Europa mit einem Staat umgehen, der offensichtlich auf dem Sprung zur Diktatur steht? Denn man mache sich nichts vor: Mit einem Sieg Erdoğans bei der Volksbefragung würde aus der Semi-Demokratie wohl endgültig eine Autokratie.Wie also mit der Türkei weiter verfahren? Das aber verweist auf die sehr viel grundsätzlichere Frage: Wie geht Deutschland generell mit antidemokratischen Führern um? Wie mit jenen in den eigenen Reihen der EU, an der Spitze Viktor Orbán? Wie aber auch mit jenen außerhalb Europas, mit Wladimir Putin und einem US-Präsidenten Donald Trump?Gewiss, jede rechtsstaatliche Demokratie muss sich offensiv verteidigen. Sie wird das jedoch nur mit den Mitteln tun können, die gerade ihre Rechtsstaatlichkeit ausmachen. Daraus aber erwächst eine fundamentale strategische Unterlegenheit: Während eine Diktatur ungestraft zu drakonischen Maßnahmen greifen kann, bleibt die Demokratie an ihre Prinzipien gebunden. Das aber setzt umso mehr voraus, dass die Bevölkerung die rechtsstaatlichen Ideale auch wirklich verinnerlicht hat.Anders im autoritären Modell: Ob Orbán oder Trump, Putin oder Erdoğan, sie alle verbinden ethnischen Nationalismus mit autoritärer Führerschaft und üben gerade damit derzeit immense Ausstrahlung aus. Daran aber fehlt es der EU. Im Inneren ist sie mit dem Brexit und dem Aufstieg der Rechtspopulisten gewaltigen Fliehkräften ausgesetzt, und im Äußeren steckt sie geopolitisch in der Zange, eingeklemmt zwischen den antidemokratischen Führerfiguren einer autoritären Internationale.Wenn daher am 25. März die Staats- und Regierungschefs in Rom zusammenkommen – aus Anlass des 60. Jahrestages der Römischen Verträge, der Gründungsakte der EU –, dann in ihrer wohl schwärzesten Stunde. Und am meisten davon betroffen ist die Bundesrepublik, denn für keinen anderen Staat wurde die EU so sehr zur Staatsräson – als Inbegriff einer neuen postnationalen Identität, gebaut auf Rechtsstaat und Demokratie.Deutschland sei „in puncto Rechtsstaatlichkeit, in puncto Toleranz und Liberalität nicht zu übertreffen“, so Kanzleramtsminister Peter Altmaier an die Adresse von Staatspräsident Erdoğan. Wie die Niederländer oder Franzosen diesen Superlativ empfinden, sei hier dahingestellt, fest steht in der Tat: Verglichen mit dem wachsenden illiberalen Elend um uns herum – von Polen über Ungarn bis zur Türkei – ist diese Behauptung schwerlich zu hoch gegriffen.Und doch trifft sie nicht den Kern des Problems. Denn die Attraktivität des liberalen Europas nach 1945 war nicht nur eine des Rechtsstaats, sondern immer auch eine der sozialen Sicherheit. Die liberale Demokratie war wehrhaft auch und gerade durch ihre soziale Attraktivität. „Wandel durch Annäherung“ lautete daher im Kalten Krieg die Devise Westeuropas: Die freien und sozialen Demokratien waren in der Lage, Osteuropa ein unwiderstehliches Angebot zu machen, das letztlich den Eisernen Vorhang zum Zerreißen brachte.Heute gehören „Wohlstand für alle“ und soziale Sicherheit in zahlreichen EU-Staaten der Vergangenheit an. Daraus vor allem resultieren die autoritären Fliehkräfte. Denn „erst kommt das Fressen, dann die Demokratie“, das gilt heute so wie gestern.