Nebenschauplätze und Symbolpolitik

Coronakrise Statt einer Politik, die Alte und Kranke schützt, haben wir nun Schleierfahndung und Demonstrationsverbote. Ist das die Gesellschaft, in der wir leben wollen?
Ausgabe 31/2021
Die Ministerpräsidentenkonferenz: Hatte das Gremium nach dem Osterruhe-Debakel nicht jegliche Legitimation in Pandemiefragen verloren?
Die Ministerpräsidentenkonferenz: Hatte das Gremium nach dem Osterruhe-Debakel nicht jegliche Legitimation in Pandemiefragen verloren?

Foto: Ole Sparta/Picture Alliance/dpa

Steht uns jetzt eine weitere Runde im Hamsterrad der medial-politischen Pandemie-Erregung bevor? Gar eine Beschleunigung der „Endlosschleife in den Virusvariantenstaat“ (FAZ)? Für den 10. August jedenfalls ist eine vorgezogene Beratung der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin angekündigt. Hatte das Gremium nach dem Osterruhe-Debakel nicht jegliche Legitimation in Pandemiefragen verloren? Das Drehbuch dieser Runden ist in Robin Alexanders Buch Machtverfall nachzulesen: Es läuft auf ein Duell Lockerer vs. VerschärferInnen hinaus, das Kanzleramt prescht vor, die Länder sind sauer, eine Boulevardzeitung leakt die Beschlussvorlage am Vorabend und berichtet dann per Liveticker über die Befindlichkeiten der Akteure. Am Ende steht ein halbgarer, meist nachts gefundener Kompromiss, den jede Seite nach Gutdünken auslegt.

Die hitzigen Diskussionen zuletzt – um Schulen, Kinder und Jugendliche, Reiserückkehrer und Impfquoten –, sie lassen nicht Gutes erahnen. Wieder geht es auf Nebenschauplätzen um Symbolpolitik und Aktionismus, nicht um den Kern der Pandemie: vulnerable, für die Öffentlichkeit geradezu unsichtbare Gruppen. Interessierte sich schon zuvor kaum einer für die Zustände in Alten-, Pflegeheimen und in psychiatrischen Kliniken, so ist dies jetzt noch weniger der Fall. Wie es dort aussieht, will man lieber nicht so genau wissen. Dabei gilt es in jedem Fall zu verhindern, dass selbst geimpfte Menschen dort wieder in ihren Zimmern isoliert werden, gar einsam, menschenunwürdig sterben müssen. Der Erfolg jeder Corona-Politik sollte sich nicht länger an Inzidenzen, an nackten Zahlen messen, sondern daran, wie sehr wir in der Lage sind, auch im Angesicht einer Krise, eines potenziellen Notstandes und einer angstgetriebenen Politik vor allem Artikel 1 des Grundgesetzes aufrechtzuerhalten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Schleierfahndung an den deutschen Grenzen gegen Bürgerinnen und Bürger, denen 25.000 Euro Strafe drohen, wenn sie gesund, aber ungetestet wieder in ihr Land einreisen; Demonstrationsverbote und Polizeigewalt in Berlin und Applaus für diese auf den Internet-Plattformen. Soldaten in den Straßen von Sydney, haftähnliche Zustände für Athleten in Tokio, die sich 15 Minuten Freigang pro Tag erst erkämpfen mussten. Sollten wir nicht alle einmal einen Schritt zurücktreten, in uns gehen und uns ernsthaft fragen, ob das die Gesellschaft ist, in der wir leben wollen?

Manche sind in einen Furor abgeglitten, für den selbst die körperliche Integrität ungefährdeter Jugendlicher und Kinder kein Tabu mehr ist. Der Chef der Ständigen Impfkommission, Thomas Mertens, muss sich den inflationären „Aluhut“-Vorwurf gefallen lassen, weil er seiner Aufgabe nachkommt, Nutzen und Risiko jeder Impfung abzuwägen. Eine wissenschaftliche Institution wird geschleift, weil sie nicht die politisch erwünschten Entscheidungen trifft.

Für Leute, die „mehr Diktatur wagen“ (Thomas Brussig), alle Diskurse mit der Ansage „Klappe halten, impfen lassen“ (Armin Falk, Ökonom) beenden oder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ad acta legen wollen (Winfried Kretschmann), muss sich das wie ein Sommermärchen anfühlen – ein chinesisches.

Doch diese Krise ist ein Charaktertest, für den sich die Worte des französischen Philosophen Geoffroy de Lagasnerie empfehlen: „Weil wir in einer ungerechten, kritikwürdigen Welt leben, gibt es keine Neutralität.“ Die jetzt regierungstreuen Intellektuellen dieses Landes sollten schnellstens zu einer dysfunktionalen Praxis des Denkens zurückfinden.

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