Der nicht mehr junge Vater steht am Schalter einer Service-Stelle der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) und bittet um eine Schülermonatskarte für seinen Sohn. Die junge Frau hinter dem Tresen möchte den Schülerausweis des Sohnes sehen. Der Mann hat nur das erforderliche Passfoto bei sich. Er legt es vor und sagt: „Der Junge ist zehn Jahre alt. Also ist er ein Schüler. Was braucht es da noch einen Schülerausweis?“ Die junge Frau insistiert: „Ich muss einen Schülerausweis gezeigt bekommen.“ Der Vater wird ungeduldig: „Wir haben in Deutschland Schulpflicht. Das ist Gesetz. Wäre der Junge kein Schüler, wäre das ein Fall fürs Amtsgericht, mindestens fürs Jugendamt.“ Noch bleibt sein Gegenüber am Schalter unerbittlich. Der Frau muss inzwischen klar sein, dass der Standpunkt des Vaters vernünftig und ihre Vorschrift unvernünftig ist. Diese Einsicht aber macht sie eher muffig. Gut geschult, wie sie ist, verbirgt sie ihren Ärger hinter steinerner Miene.
Was bringt die BVG-Angestellte in diese Lage? Warum gibt es eine so unvernünftige Vorschrift? Die Chefs der Berliner Verkehrsbetriebe sind kluge Leute, manche haben studiert. Man sagt ihnen gewiss nichts Überraschendes, wenn man sie auf diesen Unfug hinweist, mit dem sie ihre Angestellten in unangenehme Situationen bringen.
Hinterfragt den Unsinn
Aber geschieht das überhaupt oft? Gibt es viele, die an der unsinnigen Vorschrift Anstoß nehmen? Sind nicht die meisten gewohnt, dass es dergleichen in der Welt gibt und man sich das Leben einfacher macht, wenn man sich umstandslos fügt? Werden solche unsinnigen Vorschriften vielleicht gerade dazu geschaffen, dass die Leute eingeübt werden, sich darein zu fügen, ohne welche Praxis Politik nicht funktionieren würde – zumindest die Politik unserer Parteien nicht?
Es wäre ähnlich wie mit den Verkehrsschildern auf unseren Straßen. Im Verkehrskindergarten lernen die Kleinen die Bedeutung der einzelnen Schilder kennen. Später, draußen im Kiez und darüber hinaus lernen sie, dass mit so Gelerntem nichts anzufangen ist. So viele Schilder stehen allenthalben mit zum Teil gegensätzlichen Bestimmungen beieinander, dass daraus kein ernst zu nehmender Hinweis für richtiges Verhalten im Straßenverkehr zu entnehmen ist.
Training durch Blödsinn ist beim Militär Alltag. Da ruft der Unteroffizier angesichts einer großen Pfütze „MG-Feuer von links“, und die Soldaten müssen sich blitzschnell in die Pfütze werfen. Einmal blieb einer stehen, legte mit dem Gewehr nach links an und schrie „Päng“. Der Unteroffizier fragte empört, was das solle. „Ich habe den MG-Schützen erschossen“, sagte der Soldat. Die Sache ging nicht gut für ihn aus, aber der Unteroffizier kommandierte fortan: „Tiefflieger von links.“
Der Unfug in der Welt
Zurück zum BVG-Schalter. Da sagte der Vater schließlich: „Im Übrigen: Wo soll ich einen Schülerausweis herkriegen? Die Grundschule hat der Junge vor den Ferien verlassen. Das Gymnasium beginnt erst nächste Woche.“ Diese Wendung zum Pragmatischen wirkte wie ein Waffenstillstandsangebot. „Ich kann Ihnen für einen Monat eine Schülerfahrkarte ausstellen“, offerierte die Frau am Schalter, ohne auch nur ansatzweise anzudeuten, sie sei bereit im Prinzipiellen einzulenken. Das Papier wurde schweigend ausgestellt. Schweigend wurde dazu die Fahrkarte herausgegeben. „Danke“, sagte der Mann, was unbeantwortet blieb. „Auf Wiedersehen“, sagte er noch. Da wäre wohl eine Antwort zu viel verlangt gewesen.
In Erich Kästners Roman Das fliegende Klassenzimmer schärft der Deutschlehrer seinen Schülern den Satz ein: An allem Unfug, der in der Welt geschieht, sind nicht nur die schuld, die ihn begehen, sondern auch die, die ihn zulassen. Ein schöner Satz! Ein schöner Gedanke! Wie schön wäre es, wenn er ernst genommen würde.
Kommentare 6
Fein beobachtet, es ist wie im richtigen Leben. Mir fiel "Angst essen Seele auf" dazu ein. Auch am Arbeitsplatz...
Dabei lohnt es, sich dem alltäglichen Unfug auch mal entgegenzustellen
Süß! Fraglos gibt es gesetzliche und sonstige Bestimmungen, deren tieferer Sinn sich schwer erschließt. Aber das Beispiel im Beitrag ist denkbar ungünstig gewählt, diskret gesagt, zumal man erstmal auf die Idee kommen muss, ein Passfoto für eine Art Ersatzausweis gehalten haben zu wollen haben und auch noch darauf zu beharren. Das hat schon was. Wenn demnächst ein Polizist meinen Personalausweis sehen will, halte ich ihm ein Foto von mir vor die Nase und sage dass ich ich bin. Und gut ist's.
Tatsächlich könnte man in dem geschilderten Fall durchaus mit guten Gründen einwenden: Da könnte ja Jeder kommen. Denn normalerweise enthält so ein Schülerausweis außer dem Foto ja noch ein paar zusätzliche Angaben, wie den Vor- und Zunamen des Schülers, das Geburtsdatum, die Adresse, die Schule, die er besucht und nicht zuletzt die Gültigkeitsdauer des Ausweises. Brauchen wir aber alles nicht. Bild genügt, egal wo der Knabe wohnt, wie alt er wirklich ist und ob er überhaupt berechtigt ist, die Strecke vergünstigt zu befahren, für die der Papi die Schülermonatskarte kaufen will. Spielt alles keine Rolle; der Papi weiß es ja. Sehr gut.
Allerdings:
Das Mindeste, was in einem solchen Fall geprüft werden muss, ist die Identität des Schülers und seine Berechtigung zum Erwerb einer Schülermonatskarte. Dafür reicht die Erklärung des Papis, der Junge auf dem Foto sei sein Sprössling, hinten und vorne nicht aus. Daher hätte ich ihn anstelle der jungen Frau hinter dem Tresen höflich aber bestimmt gebeten, sich zu zügig zu entfernen und den Schalter freizugeben, damit die hinter ihm Stehenden dran kommen können, die ihre Sachen in Ordnung haben. Und damit hätte sie sehr Recht getan und wäre von ihren Vorgsetzten bestimmt nicht zur Rechenschaft gezogen worden, selbst dann nicht, wenn der Papi den EMRK angerufen hätte. Denn die wissen dort auch: Wat mutt, datt mutt!
Auch wenn Sie teilweise Recht haben, ein Schülerausweis ist hierfür sicher keine Lösung. An vielen Schulen sind die Fotos eingeklebt (kann man wieder abtrennen, neues ankleben) und mit Schulstempel versehen, der nach 3 Tagen auf dem Foto nur noch ein blauer Fleck ist. Wäre der Vater schon ein Betrüger im weiteren Sinne, dann würde ihn daran auch kein Schülerausweis hindern.
Ein erstes Missverstöndnis, das man hier aufklären sollte: Der Vater hat sicherlich das Foto nicht für einen "Ersatzschülerausweis" gehalten, sondern für viele Schülerausweise braucht man einfach ein Passfoto, daher hatte er es dabei.
Wenn ein Polizist sie nach dem Ausweis fragt, dann möchte er auch im Regelfall ihre Personalien feststellen, d.h eventuell gerichtsfest aufschreiben und vllt ihre Adresse haben. Das ist ja der Sinn eines Ausweis, der Ausweis ist ja nicht Selbstzweck an sich.
Der Sinn einer Schülerfahrkarte ist ja nur, nachzuweisen, dass derjenige wirklich ein gültiges Ticket hat. Dazu reicht ein Foto auf eine Schülerfahrkarte völlig aus - Welchen Sinn soll denn der name, Geburtstdatum oder Adresse darauf haben und inwiefern hilft das einem Ticketkontrolleur? Er wird lediglich überprüfen, ob die Person in real der Person auf dem Foto entspricht und das war es.
In meiner Jugend, die jetzt auch nicht so absurd lange her ist, war es übrigens auch nicht üblich, dass da unser Name drauf stand.
Wo sie vielleicht noch Recht hätten wäre der Geltungsbereich, d.h. wenn es zwei Zonen für so eine Schülerfahrkarte wären. Ich gehe aber mal nicht davon aus, denn dann wäre es im Artikel sicherlich erwähnt und eine durchaus wesentliche Information. Eine Gültigkeitsdauer ist wie schon erwähnt ebenfalls überflüssig, da eine ca. zehnjähriger Junge offensichtlich noch das nächste Jahr schulpflichtig ist, es wird sich ja um kein 10-Jahres-Abo handeln.
"Oft fügt man sich unsinnigen Vorschriften...."
....und was ist mit JENEN, die sich sinnigen Vorschriften NICHT fügen!!!???
....und JENEN, die DIES zu ahnden haben!!!???
....und DARUM befinden wir uns DA, wo wir gerade sind!!!
......auf steiler Schussfahrt Richtung ABGRUND!!!
Vermutlich dürfte sich eine große zahl von Menschen unsinnigen Vorschriften auf Grundlage einer Kosten/Nutzen-Abwägung fügen, nämlich immer dann, wenn sie zu dem Ergebnis kommen, dass der zu erwartende Nutzen des Aufbegehrens in keiner rationalen Relation zu den dafür aufzubringenden Mühen steht. Naturgemäß ist diese Abschätzung kaum objektivierbar.
....und was ist mit JENEN, die sich sinnigen Vorschriften NICHT fügen!!!???
Die müssen, genau wie alle anderen, mit den Konsequenzen ihres Tuns und Lassens leben.