Der Grenzposten Bab al-Hawa liegt unter einem niedrigen Bergkamm an der syrisch-türkischen Grenze unweit der Stadt Reyhanli. Er besteht aus einem Betondach, einem Durchgang und einer Handvoll Gebäuden. Was seine Bedeutung nicht schmälert, liegt die Grenzpassage doch ganz in der Nähe des Ortes Babisqa und damit nahe einem der großen Depots für Waffen und Ausrüstung der Freien Syrischen Armee (FSA). Wer Bab al-Hawa oder Babisqa beherrscht, hat Zugriff auf beachtliche militärische Ressourcen.
Am Abend des 6. Dezembers nahm hier eine Folge von Ereignissen mit weitreichenden Kosenquenzen ihren Lauf. Was geschah, bestätigte einen Trend, der vielen Beobachtern seit geraumer Zeit auffällt: Es droht ein tiefer Bruch innerhalb der ohnehin zersplitterten Reihen des Anti-Assad-Lagers. Der FSA stellt sich eine mächtige islamistische Koalition entgegen, die ideologischen Trennlinien auf dem Tableau des syrischen Bürgerkriegs verschieben sich – es gibt neue Fronten und neue Feinde.
Der Stabschef beschwichtigt
Kurz vor dem 6. Dezember hatte sich eine neue schlagkräftige Allianz islamistischer Gruppierungen formiert, die das Vermögen und die Stirn besaßen, mit einem Stoßtrupp den Grenzübergang zu nehmen und das Waffenlager zu kapern. Besagte Allianz nennt sich „Islamische Front“ und besteht aus sieben Kerngruppen (s. Übersicht), von denen in der Vergangenheit einige mit der dschihadistischen Jabhat al-Nusra kollaboriert haben.
Wenige Tage nach dem Verlust des FSA-Depots verkündeten die USA und Großbritannien, sämtliche Lieferungen „nicht-tödlicher“ Materialien – etwa hochentwickelte Kommunikationstechnik und Nachtsichtgeräte –, die über die Türkei an den Obersten Militärrat der FSA gehen sollten, seien „ausgesetzt“. Stabschef Selim Idriss und seine Berater versuchten zunächst, den Vorfall kleinzureden. Idriss behauptete, das Magazin sei mit seiner Zustimmung „übergeben“ worden. Zudem habe er nicht – wie es kolportiert werde – die Türkei fluchtartig verlassen. Dennoch markierten die Ereignisse im Vorfeld der geplanten Syrien-Konferenz eine besorgniserregende Wende des Konflikts. „Die Lage in Nordsyrien ist überaus kompliziert. Zwischen ein paar Gruppen gibt es Konflikte. Es sollte nun alles darangesetzt werden, dem zu entgehen“, so Idriss Ende Dezember.
Bereits im November hatte der FSA-Chef gegenüber dem US-TV-Sender PBS dschihadistischen Einheiten vorgeworfen, gegen seine Männer zu kämpfen: „Sie versuchen, die von uns befreiten Gebiete zu kontrollieren. Sie kämpfen aber nicht gegen Assad und sind daher gefährlicher als das Regime.“ Und das nicht nur wegen ihrer Ambitionen, in Syrien ein Kalifat zu errichten. Bei der neuen Islamischen Front stehen inzwischen um die 45.000 Kämpfer unter Waffen. Damit hat sich das Blatt in den letzten Monaten nicht nur zugunsten Baschar al-Assads und seines Hauptverbündeten, der libanesischen Hisbollah, gewendet. Auch im Anti-Assad-Lager verschiebt sich die Machtbalance: Gut gerüstete islamistische Gruppen, von denen einige mit al-Qaida liiert sind und von wohlhabenden Spendern in Katar sowie Saudi-Arabien versorgt werden, gewinnen an Einfluss, während die FSA an Gewicht verliert.
Derzeit warnen Terrorismusexperten besonders vor zwei al-Qaida-Filialen in Syrien. Die Jabhat al-Nusra und deren Rivalen vom Islamischen Staat Irak und Syrien (ISIS) seien dort inzwischen besser etabliert als die al-Qaida-Fraktionen während der US-Besatzung im Irak, als sie 2004 und 2005 ihre stärksten Jahre hatten. Im Combatting Terrorism Centre, einem Periodikum der US-Militärakademie West Point, schrieb Brian Fishman kürzlich: „Jabhat al-Nusra und ISIS nutzen in Syrien weitaus mehr Rückzugsorte, als sie al-Qaida jemals im Irak zur Verfügung standen. Die Regierungsarmee hat zu einigen Landesteilen seit Monaten keinen Zugang mehr.“ Fishman zufolge genießen die al-Qaida-Fraktionen in Syrien den Vorteil, sich keines US-Militärs erwehren zu müssen. Sie hätten außerdem aus ihren Fehlern im Irak gelernt, wo sie die Mehrheit der Bevölkerung gegen sich aufbrachten.
Statt der Islamisten bereitet Diplomaten aus den USA und Russland, die ab 22. Januar auf der Syrien-Konferenz für Fortschritte sorgen wollen, etwas anderes sehr viel mehr Kopfzerbrechen: Es ist die Buchstabensuppe der verschiedenen um Territorium und Pfründe rivalisierenden Gruppen und Brigaden, die jeden Konsens erschwert. Ganz abgesehen davon, dass einige islamistische Akteure dieses Friedensforum strikt ablehnen. Ohnehin verfolgt jedes Lager seine Agenda und nimmt für sich in Anspruch, an vorderster Front im Kampf gegen das Assad-Regime zu stehen.
Leise, sehr leise
Noch Ende Dezember hatten britische und US-Diplomaten darauf beharrt, für sie seien die FSA und die im türkischen Exil ausharrende Nationale Koalition weiter die alleinigen Partner. Inzwischen deutet einiges darauf hin, dass hinter den Kulissen in Washington die Einsicht wächst, man müsse die veränderten Bedingungen anerkennen. Auch sind Äußerungen zu hören wie die des einstigen Diplomaten Ryan Crocker, der in Syrien, im Irak und in Afghanistan stationiert war: „Wir müssen wieder anfangen, mit dem Assad-Regime zu reden“, sagte er Anfang Januar der Washington Post. „Dies wird sehr, sehr leise vonstatten gehen müssen. So schlimm Präsident Assad auch ist – er ist nicht so schlimm wie die Dschihadisten, die sich die Macht greifen würden, wäre er weg.“
Anderen Quellen zufolge sind bereits diskrete Gespräche mit moderateren Gruppierungen aus der Islamischen Front im Gange. Sie finden angeblich unter Leitung des US-Gesandten Robert Ford in der Türkei statt. Der reiste am 12. Dezember nach London, um sich dort mit der britischen Regierung und anderen westlichen Unterstützern der syrischen Opposition zu beraten.
Mitte Dezember erklärte ein Kommandeur aus der Islamischen Front gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, es gebe Kontakte zu US-Offiziellen. Ziel sei es, für die von der Front kontrollierten Gebiete eine Übereinkunft zu Waffenlieferungen und Koordinierung zu erreichen. Bald darauf war in London verkündet worden, die Islamische Front sei eingeladen, sich bei den Gesprächen in Montreux der Oppositionsdelegation anzuschließen.
Dennoch scheint für Großbritannien nach wie vor die FSA der relevantere Teil des Widerstandes gegen Assad zu sein. Jane Kinninmont vom Think Tank Chatham House meint: „Teilweise heißt es in London, die Dschihadis würden übertrieben dargestellt. Dies liege an ihrer Strategie, vornehmlich Gebiete zu erobern, in denen sich Waffen- und Versorgungstrassen kontrollieren lassen. Insgesamt jedoch gilt die FSA als die stärkere Kraft. Die jüngsten Nachrichten sind freilich ein schlechtes Zeichen. Sie deuten darauf hin, dass Großbritannien in der Klemme sitzt, weil es so vehement an der FSA festhält.“
Kinninmont glaubt, für eine Friedenskonferenz über Syrien gäbe es auch deshalb keine guten Vorzeichen, weil Saudi-Arabien nicht mitspielt und sich am entkrampften Verhältnis zwischen Teheran und Washington reibt. „Alles in allem macht Assad eindeutig Fortschritte, seit er sich bei der Entsorgung seiner Chemiewaffen dem Westen als Partner angeboten hat. Er weiß, dass die Unruhe wegen der die islamistischen Fraktionen wächst und keine Militärintervention in Aussicht steht. Damit gibt es immer weniger Hebel, um ihn von außen aus dem Amt zu drängen. Das wird sich in Montreux zeigen.“
Peter Beaumont ist Nahost-Autor des Guardian Übersetzung: Zilla Hofman
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