Was an neuer Lyrik zu lesen ist, erscheint zu oft als die introvertierte Innenschau in der bemühten, die erste Person allzu wichtig nehmenden Ausdrucksweise von Selbsthilfegruppen. Man blättere in den Publikationen der Independent-Verlage, klicke sich durch die einschlägigen Blogs, überfliege die Leseproben der Klappenbroschüren oder lese sich die Elaborate der vielen, vielen Preisträger laut vor. Man wird das alles kaum unterscheiden können, weil das Substanzielle und Markante fehlt; vor allem wird man den künstlerischen Ausdruck, ach, überhaupt nur die Aussage vermissen. Auf einer Website des ambitionierten Leipziger Literaturverlages finden sich „Gedichte“ wie das von Karolin: „// wenn du gehst // sag mir bescheid wenn du gehst / weck mich auf / laß mich wach sein / wenn du gehst / geh wohin du willst / doch laß mich wissen / wenn dein herz / mit dir von mir weggeht / tu was du willst / und was dir guttut / zeig mir, / was dich glücklich macht / geh von mir weg / doch vergiss einen teil / von dir bei mir / solange du bei mir bist.“ Man nimmt eine solche Etüde kein zweites Mal zur Hand. Aber sie findet sich unterm Verlagsmotto „Neue Lyrik abseits des Mainstream“.
War es der Lyrik immer Anliegen, eine neue Sicht zu vermitteln, etwas auszusagen, was auf diese Weise noch nicht gesagt worden ist, so etablieren die vielfältigen Publikationsmöglichkeiten eine Möchtegern-Lyrik, deren Layout noch Dichtung vortäuschen mag, aber dies nur der Silhouette nach ist. Plattes Zeug, Dahingeredetes wurde immer geschrieben; es ließ sich nur nie so unkompliziert an die Öffentlichkeit durchreichen. Denn um „Literat“ zu werden, benötigt man lediglich eine ans Netz gestöpselte Tastatur. Während früher der Druckbuchstabe das Privileg der gebildeten Stände war, produziert heute jeder Print. Die neue Vergesellschaftung im Medienzeitalter: Gutenbergs schwarze Kunst für alle, gern auch in Garamond Antiqua. Überall Schriftsteller! Das Diktat des Mittelmäßigen, das Übermaß an hohlem Geräusch verdirbt den Geschmack der im Internet gleichgeschalteten Gefällt-mir-Gesellschaft von den subkulturellen Online-Zeitschriften bis in die Lektorate allererster Verlage hinein. Oder gibt es vielleicht gar keine Lektoren mehr, weil sie zu hohe Kosten auslösen?
Emotionale Entlastung
Dass alles so Hingeschriebene publiziert wird, erschwert es, zwischen den narzisstischen Selbstauskünften überhaupt mal eine Stimme zu vernehmen, die noch Kraft hat. Die Regression der Lyrik begann mit ihrer Inflationierung.
„(verletzte analyseverweigerung) die zärtlichkeit ist instinktiv / an den rändern unserer persönlichkeiten / dämmert der morgen / im zeitexil / in den sondersendungen ereifern sich die leute / die wir nicht kennen über dinge / die uns fremd sind / wir gehören (eigentlich?) nicht hierher / sind aber da und leben im stummen / einverständnis mit häusern und / bäumen instinktiv sind wir / im grunde / die fuge / zwischen zwei kapiteln / dieser geschichte“. Das Gedicht „fuge“ des Lyrikers Eisenhans ist symptomatisch für das Grundgefühl von Deplatziertheit und Verlassenheit, sehr leise, aber betont selbstbewusst in der Rede, froh darüber, gedanklich inzüchtig an einem anderen Ich zu kleben, ein Zwischenzustand, ausdauerndes Larvenstadium in der „fuge zwischen zwei kapiteln“, das Vergangene nicht kennend, das Kommende eher befürchtend als erwartend. Verletzte Analyseverweigerung! Dieses Abstraktum ist der unbeholfene Versuch einer Selbstdiagnose.
Im Schreiben sind mangels Botschaft und Leidenschaft die Formalien das Wichtigste, also die beinahe obligatorische Kleinschreibung, der Verzicht auf Interpunktion in der Hoffnung, so ganz nette syntaktische Überraschungseffekte erzeugen zu können, wenn sich in der zerhäckselten Befindlichkeitsprosa sonst schon nichts tut, willkürliche Zeilenbrüche, weil das moderner wirkt. Längst vergessen, dass freie Rhythmen immer noch des Rhythmus’ bedürfen, dass Lyrik in gebundener Sprache spricht, herkommend vom Lied und vom Gesang, von den Trommeln und Tänzen. Sie schlug seit den uralten Dithyramben tiefe Saiten im Hörenden an, sie verdichtete Welt und ließ diese wieder ursprünglich erleben.
„urbane Literatur“
Neue Lyrik wünscht vor allem eines, was angesichts ihrer kühlen Distanziertheit und ihres Solipsismus verwundert: Sie will veröffentlicht werden! Aber will sie, kann sie auch gehört werden? Oder geht es darum, dass der Text dem introvertierten Schreiber in dessen Hermetik selbst nur deutlicher sichtbar werden soll – gedruckt statt nur ausgedruckt? Die beschränkten Lebensereignisse der Städtebewohner, das Einerlei ihrer gechillten Settings in Café und Kneipe, ihr vegetatives Empfinden geriert sich als „urbane Literatur“; aber was ist das gegen Georg Heyms Stadt, Bert Brechts Städteballaden und die bewegte Beat-Generation einer Aufbruchsära?
Weil alles um sie herum so groß und übermächtig geworden ist, die Umbauungen ebenso wie die verstrickenden Netze und Netzwerke, findet die Winzigkeit des Eigenen keinen Ort, keine Position, von der aus Urteile erst möglich würden. Man wartet auf den Schrei, der etwas bewegte, aber was man liest, nimmt sich gegen Edvard Munchs Ruf von der Brücke dünn wie ein Zirpen aus.
Urbane Literatur ist vor allem Selbstbesprechung als emotionale Entlastungsfunktion, also so etwas wie das Pfeifen im Walde, um sich die Angst zu nehmen, selbst verloren zu sein, weil man zum einen allein ist, ein vereinzelter Einzelner, und weil aus dem Dickicht so allerlei Bedrohliches blickt oder sich hören lässt, dessen Ursprung und Zusammenhang man aber nicht kennt und sich nicht erklären kann. Nach Ursachen zu loten, an Gründen zu rühren, das erscheint vergeblich, weil man sich ohnehin abgekoppelt glaubt. Denn die Welt, hört man, haben die anderen eingerichtet; da kann man nichts machen. Wird das Eigentliche der Lyrik, die Sprache, deren Schwung und Strahlung, nicht beherrscht und fehlt es neben Empfindungsstärke und Gedankentiefe überhaupt an Worten und Wortschatz, so bleibt nur der Aufputz der Attitüde.
Armseliges Gedöns
Bemühte Naturlyrik wird man hier und dort lesen, etwas süßlich vielleicht und von der Fantasy-Welle fluoreszierend überglitzert: „Auf den nassen Straßen / leben Phosphorfische / und winden ihre kleinen Herzen um meine Füße // Ich trage die Glückshaut / von Tiefseekindern /und fresse die Eintagsfliege / mit silbernen Blicken vom Asphalt …“ (Fee Katrin Kanzler). Gedankenlyrik – Maßstab Benn, Eich, Celan – , die Dimensionen eröffnen wagt und über die Lebensweisheiten gehobener Ratgeberliteratur hinausgeht, gibt es kaum; und das über Jahrzehnte so reiche Feld der politischen Lyrik, oft am dichtesten am Lied, oft frech-satirisch, scheint völlig verödet oder an die Comedy-Barden verloren zu sein.
Der Indoor-Status des eigenen Daseins läßt die Welt jenseits des letzten Rückzugsraums als fremden Planeten erscheinen, in den man hin und wieder seine Mess-Sonden steckt, um skeptisch die Überlebensmöglichkeiten da draußen zu prüfen. Natur und Arbeitswelt oder existenzielle Streitfragen der Epoche – den meisten Autoren viel zu profan im Gegensatz zur eigenen tragisch oder bunt aufgeblasenen Nulligkeit, die so vor sich hinraunt. Thomas Kunst, Mehrfachpreisträger, echauffiert sich sogar in einem Sonett über ignorante Juroren:
„Das einfachste: sie meiden die Vergleiche. / Sie jubeln über größte Poesie, / Sie loben, preisen und sie feiern die, / Die sich im Hauptfeld wähnen, selten bleiche // Und blutleere Gedichtattrappen, starre / Gebilde ohne Trotz und Sprachverlangen, / Im Blick: die Ausreißer nie einzufangen, / Verfolge das schon über zwanzig Jahre. // Warum gelangt mit den Gedichten niemand / In meine Top Einhundertfünfunddreißig, / Ich hätte jetzt so gerne Gernhardt hier, // Auch Hacks und Heine, deren Sachverstand / Auf Netzwerke und auf das Hauptfeld scheiß ich / Und lese jetzt: Am Meer. An Land. Bei mir.“
Hoffnung im Einerlei des Banalen
Lyrik zu veröffentlichen, ist vor allem der Versuch, mit anderen monadischen Selbstformulierern der Szene Kontakt aufzunehmen. Weißes Rauschen von Zelle zu Zelle, von Isolation zu Isolation, Zwölftonmusik der großen Entfremdung, zurückgeworfen von den eigenen vier Wänden, „Zeichensprache der Affekte“ (Nietzsche). Die anderen, die sinnlich Lebendigen, jene mit mehr Puls und höheren Amplituden, interessiert das armselige Gedöns ohnehin nicht. Der im Mittelpunkt seiner kleinen Welt textende Autor könnte sich auch mit dem iPod abstöpseln und am Fenster ein wenig vor sich hin swingen.
Dabei gäbe es Veranlassung genug für tatsächlich neue Lyrik. Zunächst die philosophische, die Welt nicht als bloße Kulisse der eigenen Langweiligkeit, sondern als Problem aufzufassen, und zwar nicht vergreint, sondern offensiv. Heiner Müller sprach gern von Material. Das seine fand sich in der Geschichte der sozialistischen Hoffnungstragödie und in der Betrachtung der ihn gefangennehmenden Stagnation, das heutige könnte in einer allgemeinen, aber gerade ideellen Krise erkannt werden, die bereits größte Umbrüche ahnen lässt. Wir sind nicht nur in der Gefahr, dass etwas passiert, wir sollten dies als Hoffnung im Einerlei des Banalen begrüßen. Expressiv! Krass!
Möglich und nötig, das Dramatische von Stalinismus und Poststalinismus, von Kapitalismus und Postkapitalismus, von Kaltem Krieg, von Mauer und Stasi, von geschundener Natur und vergewaltigten Mitgeschöpfen poetisch zu fassen, und zwar so, wie es der Literatur stets Anliegen war, nämlich nach einer tieferen Lesart hinter der offiziösen Verlautbarungsrhetorik zu suchen. Insofern sollte gerade nicht die Welt poetisiert werden, sondern die Poesie mal wieder verweltlicht, ergo politisiert, indem man den etwas schweren Begriff möglichst weit fasse, etwa republikanisch, also wieder als „res publica“, als öffentliche Sache, eine Angelegenheit von Belang – gegen all die Belanglosigkeit.
In einer Gesellschaftskultur der Farce bedarf es wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern des unmittelbaren Blicks des Kindes, das die Wahrheit sagt: Aber der Kaiser ist doch nackt! Und alle für einen Moment zum Schweigen bringt. Gerade die Lyrik könnte solche Blicke und Worte vermitteln.
Martin Mollnitz (geb. 1964) hat Germanistik und Geschichte in Leipzig studiert
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