Neue Maueropfer

Im Gespräch Der ungarische Menschenrechtler Ferenc Köszeg berichtet, dass an osteuropäischen Grenzen Polizeibeamte über das Schicksal von Flüchtlingen entscheiden

"Kein Ort. Nirgends?" lautete der Titel einer Tagung, die die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl zu ihrem 20-jährigen Bestehen am vergangenen Wochenende in Tutzing durchführte. Über die Situation von Flüchtlingen an den osteuropäischen Außengrenzen referierte dort der Vorsitzende der ungarischen Sektion der Menschenrechtsorganisation "Helsinki-Komitee", Ferenc Köszeg. Für sein Engagement im Bereich der Flüchtlingsrechte wurde ihm der erstmals ausgelobte Preis "Pro-Asyl-Hand 2006" verliehen.

FREITAG: Die Ukraine ist zur neuen Schnittstelle von Migration geworden. Über die Ostgrenze versuchen Flüchtlinge in die EU zu kommen. Über die Westgrenze werden abgelehnte Flüchtlinge aus Polen, der slowakischen Republik und Ungarn abgeschoben. Wie gestaltet sich die Situation in den Flüchtlings- und Haftlagern?
FERENC KÖSZEG: In der Ukraine habe ich zwei Lager am Grenzübergang Chop besucht, direkt im Länderdreieck Ukraine, Slowakei und Ungarn. In den sehr engen Zellen werden Personen nicht länger als zehn Tage festgehalten. Menschen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken werden ausgewiesen, mit Geldstrafen belegt und verlassen die Lager auf freiem Fuß. Diejenigen, die nicht aus den Sowjetrepubliken stammen, kommen nach Pavshino. Das liegt dreißig Kilometer von der slowakischen Grenze entfernt. Die Zustände dort sind unmenschlich. Das Lager ist schrecklich überfüllt, die medizinische Versorgung eine Katastrophe, das Essen kriminell. In diesen außereuropäischen Flüchtlingslagern haben Menschen kaum eine Chance, einen Asylantrag zu stellen, geschweige denn Asyl zu bekommen.

Welche Rolle spielen die Internierungslager für das europäische Grenzregime?
Sie sollen Menschen abschrecken: vom Grenzübertritt und von der Migration. Westliche Regierungen spielen darin eine sehr wichtige Rolle. 1997/1998 hat sich die österreichische Regierung beschwert, dass zu viele Flüchtlinge über die Ostgrenzen kommen würden. Daraufhin hat die ungarische Regierung offene Wohnheime für Flüchtlinge in geschlossene Unterkünfte und Haftanstalten umstrukturiert. Menschen wurden dort ohne richterliche Verordnung festgehalten. Von behördlicher Seite hieß es auch nicht Haft sondern Pflichtaufenthalt. 1998 waren diese Anstalten mit über tausend Inhaftierten, unter ihnen Frauen, Kinder und Babys, schrecklich überfüllt. Früher betrug die maximale Internierungszeit 18 Monate, seit Anfang 2002 sind es zwölf Monate. Die Verkürzung ist auch der Lobbyarbeit des Helsinki-Komitees geschuldet. Aber es sind immer noch sechs Monate mehr als in Österreich, der Ukraine oder der Slowakei. Aktuell sind 80 Personen in Schubhaft.

"Die Mauer Europas verschiebt sich nach Osten und die Doppelmoral reist mit", sagten Sie in Ihrem Eingangsvortrag und sprachen auch über "neue Maueropfer".
Vor zwei Jahren haben wir festgestellt: Menschen werden ohne Verfahren von der ungarisch-ukrainischen Grenze abgeschoben. Offiziell heißen diese Vorgänge "Vollzug der Rückführungsvereinbarungen". Die Grenzpolizei behauptete, die Menschen beantragten kein Asyl. Unter ihnen gab es aber auch Iraker, Afghanen und Kurden aus der Türkei. Es ist unwahrscheinlich, dass sie kein Asyl beantragt haben. Sie wurden nicht angehört, sondern einfach in die Ukraine abgeschoben.

Grenzpolizisten entscheiden willkürlich über Asylfragen. Welche Konsequenzen hat dieses "Outsourcing" des Flüchtlingsschutzes?
Das erste Sieb in diesem Prozess ist tatsächlich die Grenzpolizei. Überall! In Deutschland ist das der Bundesgrenzschutz. Vor zehn Jahren habe ich am Frankfurter Flughafen mit dem Oberstleutnant des Bundesgrenzschutzes gesprochen. Er sagte: "Wenn Flüchtlinge schon Asylsuchende sind, bekommen sie eine rechtliche Beratung. Solange sie nicht ins Land hereingekommen sind, haben sie kein Recht Anwälte zu treffen. Und ich werde eine Einreise nicht erlauben." Er wisse, wer sofort wieder abgeschoben werden kann. Er entscheide. Und er sprach sehr feindselig über die ankommenden Menschen.

Auf der ungarischen Seite gegenüber der Grenze von Chop traf ich einen deutschen Offizier des Bundesgrenzschutzes. Ungarn ist noch nicht Mitglied im Schengen-System. Wenn Pässe verdächtig wirken, kontrolliert er über das Schengen-Informationssystem, ob die Person auf einer Liste für Einreiseverbote in die Schengen-Länder steht. In Ungarn besteht für die Person kein Einreiseverbot. Der deutsche Offizier erzählte noch von seinem Dienst an der deutsch-polnischen Grenze. Und auch er war fest davon überzeugt, zu Recht über das Schicksal von Menschen bestimmen zu dürfen. Die ungarischen Grenzpolizisten sind da weniger selbstbewusst.

Das Ungarische Helsinki-Komitee bietet Flüchtlingen in Internierungslagern Rechtsberatungen an. Wie ist es dazu gekommen?
In Ungarn gibt es keine andere größere und professionelle Organisation, die Flüchtlingen Rechtshilfe anbieten könnte. Das Helsinki-Komitee ist außerdem ein so genannter "ausführender Partner" der UNHCR-Vertretung in Budapest. Früher haben sie unsere Tätigkeit finanziert. Heute bekommen wir das Geld vom European Refugee Fund (ERF). Das Helsinki-Komitee ist bei den Behörden nicht besonders beliebt. Gleichzeitig haben sie vor uns Respekt.

Der soweit reicht, dass Ihnen der Zugang zu Abschiebegefängnissen und Internierungslagern nicht verweigert wird. Das ist in der Bundesrepublik keine Selbstverständlichkeit.
Natürlich nicht. Das ist eine Erscheinung in den ehemaligen sozialistisch-kommunistischen Ländern. Die Behörden haben ein schlechtes Gewissen und wollen zeigen, dass sie jetzt offen sind und das kommunistische Erbe überwunden haben. Politisch benutzen sie es als Beweis: "Sehen Sie, die Zustände sind nicht so schlimm wie behauptet." Gleichzeitig halten sie die Gesetze nicht ein. Ein bizarres Verhältnis: Sie wollen zeigen, dass sie alles tun, was in ihrer Macht steht. Aber aus Geldmangel könnten sie sich nicht an die Gesetze halten.

Welche Erwartungen stellt die EU im Bereich der Flüchtlingsarbeit an Ungarn?
Die Integration zu fördern. Doch Asylbewerber wollen nicht in Ungarn oder anderen osteuropäischen Ländern bleiben, sondern betrachten sie als Transitländer. Die Anzahl der Asylbewerber ist stark gesunken. Voriges Jahr waren es 1.600 neue Anträge. 1999 waren es noch 11.000. Die Anerkennungsquote liegt immer zwischen 100 und 200 im Jahr. 30 Prozent der Antragssteller verlassen das Land jedoch noch vor der ersten Anhörung, obwohl viele von ihnen im Rahmen des Dublin-II-Vertrags aus Österreich zurück abgeschoben werden. Integrationsmöglichkeiten existieren nicht wirklich.

Das Gespräch führte Nina Schulz

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