Es war einmal eine Häuptlingstochter. Sie lebte mit ihrem Volk an der amerikanischen Ostküste, in der Gegend der Chesapeake Bay, wo später Baltimore und Washington gegründet wurden. Im Jahre 1607 landeten dort drei britische Schiffe in der Absicht, das Land zu erkunden, um es später zu besiedeln. Sie gründeten Jamestown - die erste dauerhafte englische Siedlung auf amerikanischem Boden. Bald aber kam es zu Feindseligkeiten mit den Indianern. Powhatan, Häuptling von 30 Algokin-Stämmen und Vater von Pocahontas, nahm einen der Siedler gefangen und befahl, jenem Captain Smith den Schädel zu zertrümmern. Doch da flehte seine Tochter um Gnade. Und als alles Betteln nicht half, legte sie schützend ihren Körper über den gefesselten D
Neue Welten
VOM IMAGINÄREN ALS DER MATERIELLSTEN KRAFT IN DER WELT Klaus Theweleits Studie über ein Indianermädchen im transatlantischen Märchenwald: die Pocahontas-Connexion
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n Delinquenten. Powhatan gab nach und schenkte John Smith sein Leben. Da war Pocahontas erst zwölf Jahre alt, und doch befand sie sich bereits auf dem besten Weg, zum ersten amerikanischen Traum zu werden. Ihr Name spielt darin seit nunmehr 350 Jahren eine entscheidende Rolle. In Deutschland wäre Pocahontas keine geläufige Figur, kennte man sie nicht aus einem familienfreundlichen Zeichentrickfilm der Walt Disney-Bilderproduktion.Klaus Theweleit hält die alte Geschichte von Pocahontas und Captain Smith für so universal wie hochaktuell. Dafür hat er sogar sein groß angelegtes Projekt Das Buch der Könige unterbrochen. Jenes vielbändige Buch der Könige handelt von den Künstlern, den Sinnstiftern und anderen Weltenbauern und beschreibt sie in ihren Liebesverhältnissen, Machtpositionen und Körperbeziehungen. Doch seine neue - auf vier Bände angelegte - Studie über die Pocahontas-Connexion verhält sich fast wie eine Fortsetzung, wenigstens wie ein Seitentrieb zum ersten Band des Buchs der Könige: Auch Kolonisten schaffen neue Welten, gründen neue Gesellschaften, und Frauen werden auf besondere Weise ins Fundament gearbeitet. Pocahontas zum Beispiel. Sie stirbt 1617 in der Nähe von London unter nicht ganz geklärten Umständen. Belegt hingegen ist, dass sie 1609 in London auftaucht und großes Aufsehen erregt: der erste königliche Besuch aus der Neuen Welt. Erstaunlicherweise aber befindet sie sich nicht in Begleitung von John Smith, sondern sie entdeckt Europa als die Gattin eines gewissen John Rolfe - eines jener Siedler, die 1607 Jamestown gegründet und dabei sie entdeckt hatten. Rolfe wird bald zu einem der ersten "wahrhaften" Gründer des neuen Amerika. Er macht sein Geld und Glück mit Tabakpflanzungen in Virginia.Nachdem man verstanden hatte, dass auf dem frisch entdeckten Kontinent kein Gold wächst, wird der Tabak zur vorläufig ergiebigsten Quelle kolonialen Reichtums und - nebenbei - zum Modell aller seitherigen Drogenpolitik: Der Genuss von Tabak hat zwar keinen guten Ruf, breitet sich aber wahrscheinlich deshalb rasch aus - Tabak wird also reichlich angebaut und schwer besteuert. Die anderen Folgen sind auch nicht ganz harmlos: Die Anbauweise der Tabakpflanzen vernichtet den natürlichen Lebensraum der Indianer, führt zur Vertreibung und dann bald zum Aussterben von Pocahontas' Nachfahren. Außerdem benötigen die riesigen Pflanzungen und die Verarbeitung der Ernte ein Heer billiger Arbeitskräfte. Dieses Problem lösten die im 17. und 18. Jahrhundert aus Afrika eingeführten Sklaven. Spätestens hier verliert die Liebesgeschichte von Pocahontas mit den weißen Siedlern alle Anmut - weshalb sie auch s o nie erzählt wurde. Man erzählte bevorzugt eine Liebesgeschichte, die mit einiger Sicherheit nie stattgefunden hat, nämlich eine Liaison von Pocahontas mit John Smith. Dafür lässt man die reale Liebesgeschichte mit John Rolfe lieber unter den Tisch fallen. In dem Disney-Film zum Beispiel taucht Rolfe nur als Nebenfigur im Londoner Nebel auf - jetzt zum Diplomaten ernannt und also kein political unkorrekter Tabakfarmer mehr. Auch Peggy Lee besingt in dem berühmten Song Fever (1958) die erfundene Liebesgeschichte von Pocahontas und Captain Smith. Genau wie Elvis Presley, der nach seiner Rückkehr vom Militärdienst in Europa gleich seine Fassung von Fever einspielte.Was den armen John Rolfe um sein ewiges Leben im Mythos gebracht hat, ist wahrscheinlich die Wirklichkeit: "Rolfe ist kennbar. Und Smith ein Held wie Odysseus." Rolfe hat tatsächlich amerikanische Wirklichkeit gesät. "Dies anzuerkennen hieße aber eine weitere Realität anerkennen, die Ehe mit der roten Frau." Theweleit zieht uns in eine spannende Reportage über die Politik jenes Mythos. Auf der einen Seite beflügelt er uns mit einer Geschichte der Bejahung: Wenn das minderjährige Indianermädchen den weißen Mann liebt, dann nicht, weil sie ihn versteht, sondern weil sie seine, unsere, Rasse begehrt. Auf der anderen Seite verdeckt der Mythos: Er schlägt die real existierende Wirklichkeit mit Unsichtbarkeit. Gemischtrassige Liebe existiert schließlich nicht nur in den USA als ein verwegenes Märchen. Darüber darf man in Romanen schluchzen und in Filmen singen, aber sonst nicht dran rühren: "Grundregel: die Âerfundene Story muss Âgut genug sein, muss besser geschrieben sein, wahrer als die ÂpassiertenÂ, schöner, furchtbarer, vor allem aber nützlicher für die Erfordernisse des Schreibmoments. ÂTatsachen ... ÂBuchstaben ... ÂSongs ..." Und so träumt auch Neil Young in seinem Song Pocahontas davon, mit dem Indianermädchen zu schlafen, um zu wissen, "how she felt".Theweleit macht dem Leser Feuer unter dem gemütlichen historischen Hintern. Allein durch die Art und Weise, wie er die Fäden der Pocahontas-Geschichte neu aufrollt und weiterspinnt. Wir erfahren nicht nur, wie es weiterging im Amerika jener Jahre, sondern auch, was sich in London tat. Wir hören von den sich formierenden Trusts des Überseehandels und befinden uns mit einem Male im Gestrüpp rvialisierender Geheimdienste, die im Auftrag des Königs und gegen ihn Strategien künftiger Kolonialpolitik aushecken. Damit beschäftigen sich gleichzeitig auch zwei große Geister: Der Philosoph und Politikberater Francis Bacon entwickelt Theorien über den Umgang mit den fremden Kulturen. Während William Shakespeare in seinem Drama The Tempest (Der Sturm) eine ganz andere Version auf der Bühne dramatisiert. Doch beide Zeitgenossen kreisen insgeheim um Pocahontas, die indianische Prinzessin in London - jetzt getauft auf den Namen Rebecca, der bereits ein eigenes Programm enthält. Theweleit entdeckt nicht nur historischen Sex-and-crime-Stoff - er kann ihn auch erzählen. Mit leichter Hand zeichnet er in die alten Akten die Ahnung, dass da brandaktuelle Agenda verhandelt werden. Theweleit beweist nicht. Er montiert, collagiert, schneidet. Das Material beginnt zu sprechen: zu plaudern, zu raunen, zu orakeln. Es sagt viel mehr und spricht anders, als sich wissenschaftlich eng führen ließe.Zur Kunst der Montage gehört auch eine große Zahl von Photos, Gemälden, Abbildungen oder Cartoons. Bilder sind ein anderes Medium der Mythenbildung und -verbreitung. Theweleit lässt die Ikonen ihrer Geschichte parallel erzählen.Im ersten Band der Tetralogie reisen wir einmal um die Welt und durch die Weltgeschichte zurück. Wir geraten in wilde Gegenden, Kuriositätenkabinette, Boudoirs und heikle Labyrinthe. Ohne Gebrauchsanweisung schickt Theweleit uns auf die Achterbahn der Globalisierung und ihrer Mythen. Doch es ist keine linear argumentierende Geschichte, die den Wohlmeinenden noch einmal erklärt, wie böse die Kolonisten waren und wie traurig das Schicksal der Kolonisierten. Das haben Historiker längst ermittelt. Allein, keiner will es wissen. Und das hat vielleicht damit zu tun, dass wir noch gar nicht verstanden haben, wie weit unsere Kultur vom Kolonialismus durchdrungen ist.Dieses bunte und aufregende Buch stößt uns auf die beunruhigende Erkenntnis, dass die laufend besungene Globalisierung unserer Tage nichts anderes ist als ein High-Tech-Kolonialismus, der sich fleißig aus dem Trainingslager der Geschichte bedient. Die Mission des Abendlandes besteht ja seit ewigen Zeiten darin, die Welt nach seinem Bild einzurichten - meistens mit der Axt. Umgekehrt darf der Rest der Welt bei uns nur zu unseren Bedingungen einkehren. Kurz, humanitäre Kreuzzüge sind auch nicht gerade eine neue Erfindung von Commandante Scharping. Nur, heute heißen die Mythen "Weltgesellschaft" oder "Menschenrechte".Zum Kolonialismus gehören nicht nur Könige, Krieger und Siedler, dazu gehören auch Märchenonkel wie Capitain Smith und Königstöchter, dazu gehören Multi-Kulti-Agenten und die Operationen einer unbegreiflichen Überlegenheit. Eine Theorie der Globalisierung käme nicht weit, wenn sie den Kolonialismus nur mit Techniken der Macht, der militärischen oder ökonomischen Unterdrückung beschriebe. Es ist auch eine Geschichte des Verrats, des Überlaufens, eine Angelegenheit prekärer Erotik - so wie Pocahontas in gewisser Weise ihre Kultur verraten hat.Theweleit hat gleich ein ganzes Batallion von kollaborierenden Königstöchtern ausgemacht, angefangen bei der antiken Medea über die mexikanische Malinche bis zu jüngeren Vertreterinnen fürstlicher Kollaboration. Mit dieser sonderbaren Mittlerfigur wird sich der zweite Band beschäftigen: Das Buch der Königinnen. Doch die kollaborierenden Königstöchter stehen für ein allgemeineres Phänomen: Wo Kolonialisten auftauchen, brechen die Ambivalenzen in den kolonisierten Kulturen auf. Darum wird es im dritten Band der Pocahontas-Connexion gehen: Warum Cortez siegte. Maximal 40.000 Mann waren nötig, um das besetzte Frankreich unter deutscher Kontrolle zu halten. Allen hinterher prächtig blühenden Resistance-Mythen zum Trotze: Frankreich hatte sich aufgegeben. Wie wenig Amerikaner es bedurfte, um Westdeutschland unter amerikanischer Kontrolle zu halten, lässt sich wahrscheinlich kaum beziffern, davon lässt sich eher erzählen, wie es zum Beispiel Arno Schmidt in seinem Text Seelandschaft mit Pocahontas getan hat. Und wie Pocahontas an den Dümmer-See kam - so Anfang der Fünfziger - und wie die Deutschen die Sexualität entdeckten, um ihrer Vergangenheit zu entkommen und sich insgeheim antiamerikanisch aufspielen konnten und dabei natürlich stets gehorsam blieben, darum geht es im vierten Band der Pocahontas-Saga, der jetzt zusammen mit dem ersten Band erschienen ist. Theweleit macht sich in diesem Teil vergnügt daran, Schmidts literarisches Spiel der Umkehrungen spielerisch aufzudecken: deutsche "Männerphantasien" im Zeichen von Pocahontas. Nicht zuletzt ist daraus auch eine hinreißende Hommage an Arno Schmidt geworden.Klaus Theweleit schreibt nicht einfach kluge Sachbücher. Seine Schreibweise entwickelt eine neue Denkform. Die sogenannte Postmoderne hat ja aus der Höhe ziemlich klassisch gebauter Theoriegebäude wissen lassen, es wäre nun aus mit Wissen, Wahrheit und Erkenntnis. Was außer gewissen Universitätsbeamten niemanden sonderlich erschrocken hat. Doch es gibt ein Folgeproblem: Während sich die Welt in wilde und unübersehbare Globalisierungsprozesse verstrickt, hat sich die intellektuelle Weltermittlungszunft hinters geschützte akademische Detail verschanzt oder sie huldigt musealem Kunstsinn. Aber, wie läßt sich noch über die Welt kommunizieren, ohne in die Fallen expertenhafter Scheinobjektivität einerseits oder beliebiger Subjektivität andererseits zu stolpern?Klaus Theweleits gesamtes Werk lässt sich als Antwort auf diese Frage lesen. Er wagt ein wildes Erzählen in Begriffen und Dokumenten, das auf alle Sprachregelungen irgendwelcher Denkklubs verzichtet, scheinbar unmethodisch ringt er Seite für Seite um durchpulste Evidenz. Eine Evidenz, die weder bei Wahrheit noch bei Schönheit zur Ruhe kommt. Vom Imaginären, auch vom kollektiv Imaginären, kann man schwer in Konzepten distanzierten Wissens handeln, deshalb aber gehört das Imaginäre noch lange nicht bloß in die ästhetische Abteilung. Theweleit gelingt es, vom Imaginären als der materiellsten Kraft in der Welt zu handeln, als komplex schillernde Wirklichkeit. Am Ende geht es darum, Pocahontas' weitgesponnene Geschichte in uns selbst zu entdecken. Das wäre dann wahrscheinlich der vorläufig gelungenste Versuch, mit Pocahontas zu schlafen.Klaus Theweleit: Der Pocahontas-Komplex.Band I: Pocahontas in Wonderland, Shakespear on Tour, Indian Song, Verlag Stroemfeld, Frankfurt am Main 1999, 728 S., 68,- DMBand IV: "You give me fever". Arno Schmidt. Seelandschaft mit Pocahontas. Die Sexualität schreiben nach WWII. Verlag Stroemfeld, Frankfurt am Main 1999, 328 S., 48.- DM
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