Neues aus Kaltenmoor

Literatur Alles in Martin Lechners „Der Irrweg“ ist skurril. Vielleicht sogar zu skurril?
Ausgabe 37/2021

Saša Stanišić hat mal in seiner Prä-Vater-Twitter-Zeit notiert, dass er gerne zu Büchern bemerken würde, soundsoviele Kapitel seien gut, soundsoviele nicht so. Mit der Summe könne er einen Roman bewerten. Irgendwann denkt man an diese Bemerkung, aber da hat man wohl schon aufgegeben mit Martin Lechner und seinem Roman Der Irrweg. Zurückblättern, die vielen kurzen Kapitel durchschauen, gibt es einen Punkt, eine Wendung, bei der einen die Geschichte von Lars verloren hat? An dem seine über allem dräuende Suff-Mutter, die mittelklasse-fade Kleinstadt, der Zivildienst als Möglichkeit, all dem zu entfliehen, und die kuriose Liebschaft zu Hedwig einen ziemlich zu langweilen begannen? Den Punkt gibt es nicht und die Stanišić-Summe ergibt keine gute Bilanz für den Roman.

Martin Lechners Debüt Kleine Kassa von 2014 stand auf der Langliste für den Deutschen Buchpreis, Kritiker*innen umkränzten ihn mit Worten wie „turbulent“ und „atemlos“. Die Erzählung über einen leicht tumben Lehrling wurde mit dem Hinweis garniert, dass der österreichische Residenz-Verlag hier eine ganz un-österreichische Erzählung verlegt und man sich bei deutschen Verlagen darüber ein wenig ärgern könnte. Denn an der großen Kassa des Buchhandels war die Erzählung wohl ein Überraschungserfolg: eine Provinzkomödie, eine kinematografisch kombinierte hastige Flucht mit Geldkoffer, expressionistischen Gedankenströmen, wilden Beobachtungen. Man kann das mögen, es kann einem auch leichtgewichtig vorkommen.

Schon in Kleine Kassa tauchten Kaltenmoor und die Kaufmannsstadt Linderstedt auf, Lars, Mitschüler des Protagonisten, erklärte, „dass er sich eher zwei Nägel in die Füße hämmern“ würde, als sich noch einmal in den Klassenraum zu setzen. Der Irrweg wendet sich Lars zu, als er sich „vor zehn Monaten albernerweise für den Zivildienst in der Psychiatrischen Anstalt am Stadtrand von Linderstedt gemeldet hatte“. Und schon hier, im ersten Satz, erhalten wir einen Hinweis auf die Figur des Protagonisten und besonders, wie der Erzähler ihn behandeln wird: Das Umstandswort bewertet, hält Lars von Beginn an auf Distanz. Und aus der arbeitet er sich, albernerweise, nicht oder nur ganz selten heraus.

Die Protagonisten aus Kleine Kassa und Der Irrweg ähneln sich, beide sind nicht die hellsten Kerzen auf der Torte, beide erleben Adoleszenzgeschichten, und in all der Jugendlichkeit suhlt sich auch die Sprache, da „flitzen“ Menschen, das Telefon, also „Handy“, „zittert“ in der Hose, Lars „gluckert“ ein Glas Milch herunter, kultiviert auch mal eine „bös bescheuerte Muffkatzenlaune“. Das kann mit dem trägen Blödsinn des Zivildienstes zusammenhängen, der für den keineswegs zielgerichteten Lars eine Möglichkeit ist, aus einem Wohnheim zuzuschauen, wie öde die Zeit zerrinnt.

Lars hat körperliche Besonderheiten, eine überzählige Zahnreihe, für die er sich schämt, und hat nach zeitgemäßem Video-Mobbing am Gymnasium erst einmal die Segel gestrichen und den Zivildienst als Puffer zur Mutter und zur Schulgesellschaft zwischengeschaltet. Die Dinge hier liegen im Argen, Vorgesetzte nerven und die Nummer mit Hedwig soll schräg sein: Der Roman versucht sich an bunten Beschreibungen, illustriert auch Nebenfiguren als irgendwo falsch abgebogen, nutzt eine fast krampfhaft breite Palette von Verben.

All das könnte noch werden, nur behängt Lechner seinen Protagonisten ausdauernd mit Beiworten, die ihn träge, stumpf, faul, eingeschüchtert und langsam im Kopf erscheinen lassen wollen, dass er nie mehr als zur Karikatur des Antihelden taugt. Vor allem daran liegt es, dass all die Absurditäten herbeigezerrt, die Verhältnisse und Windungen einfach ziemlich egal wirken. Das schwere Gewicht all der Urteile des Erzählers drückt Lars zu Boden, Der Irrweg kommt einfach nicht vom Fleck.

Info

Der Irrweg Martin Lechner Residenz Verlag 2021, 272 S., 24 €

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