Neues vom alten Proust

Literatur Bisher unveröffentlichte Fragmente aus dem Nachlass des Meisters bieten Anlass für neue Blickwinkel
Ausgabe 41/2019
Noch heute können wir staunen Staunen über die offenbar unerschöpflichen Perspektiven des Proust’schen Œuvres
Noch heute können wir staunen Staunen über die offenbar unerschöpflichen Perspektiven des Proust’schen Œuvres

Foto: Imago Images/Photo12

Wieder einmal kann ein Ich-Erzähler nicht einschlafen, wieder wälzt er Gedanken zum morgigen Tag, er will eine krebskranke, nahe Freundin zu besuchen. Wieder ist es ein literarischer Text von Marcel Proust. Jedoch führt dieser nicht in seitenlang sich verirrende Traum-Bilder von Subjektivität, Kirchen und Frauen, sondern schildert sogleich den Besuch bei Pauline, von der sich der Erzähler mit einer erstaunlichen Erkenntnis über den Tod bald wieder verabschiedet.


Die Geschichte von Pauline leitet den Band Le Mystérieux Correspondant et autres nouvelles inédites : Suivi de Aux sources de la Recherche du Temps perdu, der insgesamt neun Textstücke von Marcel Proust versammelt. Es handelt sich um bisher in Buchform unbekannte Fragmente, die von Luc Fraisse aus Prousts Nachlass ausgewählt wurden, der Proustianer und Herausgeber pflegt einen Teil davon in der Bibliothèque nationale de France.


Obwohl es sich jeweils um Fragmente von nur wenigen Seiten handelt, denn es fehlt manchmal ein Schluss, eine Einleitung oder auch ein Zwischenstück, ist Proust erkennbar an den Themen und dem Stil: am Intérieur der großbürgerlich-aristokratischen Begegnung und Geste, den Gesprächen, bevor das Theater beginnt, dem Spaziergang durch den Bois de Boulogne und an den billets und Mitteilungen, die von den Dienstboten überbracht werden.

Homosexualität ist bald weiblich, bald männlich


Bereits hier erweisen sich die einzelnen Erzähler vor allem zunächst als Liebhaber des „enchantement mystérieux“, eines geheimnisvollen Zaubers, der von Menschen, ihren Blicken und ihren Gestalten ausgehen mag. Dann aber grundieren ganz wie im Hauptwerk, der Suche nach der verlorenen Zeit (Recherche) die Betrachtungen zur Kunst den Erzählton, und was sie mit der Seele („âme“) macht, auch wenn ihr Betrachter selbst kein Genie ist, kein Künstler. Und die Beschreibung eines „homosexuellen Gefühls“. Für Luc Fraisse belegen diese frühen Notizen eine „mise en scène de la homosexualité“, die Darstellung von Homosexualität, die Prousts Werk von Anbeginn bestimme. Dass Homosexualität bei Proust bald eine weibliche, bald eine männliche sein kann, wird spätestens in der Recherche, zudem durch das wechselbare Geschlecht, männlich oder weiblich, in den Figuren von Gilberte und Albertine deutlich.


Geschrieben wurden die Texte in den frühen Jahren des Autors noch vor der Wende ins 20. Jahrhundert. Sie sollten zu Les Plaisirs et les Jours (Tage der Freuden) gehören, 1896 erschienen. Dann aber wurden sie von Proust selbst nicht aufgenommen und beiseite gelegt. Für den neugierigen Proust-Leser werden die Fragmente nun textgenetisch aufbereitet: Fußnoten erläutern die Varianten, Lücken und „ratures“ (Streichungen), einleitende Kommentierungen verbinden sie seitengenau mit der Recherche und mit Passagen, in denen Schilderungen ähnlich und sogar wortgenau wiederkehren. Zusätzliche Bemerkungen ordnen ihre literarische Qualität kritisch ein. Die angehängte Studie des Herausgebers kann als Co-Erzählung gelten, in der noch einmal an das Studium der Philosophie von Marcel Proust erinnert wird, an sein Gespür für Gruppen und Gesellschaften, das er an der Soziologie von Gabriel Tarde geschult hatte, und an die „mémoire immémoriale“, die „unerinnerbare Erinnerung“ des Philosophen Joseph Baruzi, den die Proustschen Notizen mit einem doppelten „z“ falsch schreiben.


Eigentümlich ist es allemal, den langatmigen Proust in einem kurzen Format zu lesen. Hatte der Autor doch nicht nur für sich selbst das Schreiben zum Lebenswerk gemacht, sondern sein Werk auch dem Leser als Lebensaufgabe überlassen. Dieser neue Band lässt sich allerdings auch betrachten als die Miniatur von Vorstudien, als Skizzenbuch, für den Proustschen Kenner so aufschlussreich wie für den Nicht-Kenner. Die merkliche Lust des Herausgebers Luc Fraisse an der hoch akribischen Quellenarbeit – 100 Jahre nach den ersten Teilen der Recherche – bestärkt Leser dieser literarischen Skizzen und Textfragmente in ihrem anhaltenden Staunen über die offenbar unerschöpflichen Perspektiven des Proust’schen Œuvres.

Le mystérieux correspondant et autres nouvelles inédites Marcel Proust Luc Fraisse (Hg.) Éditions de Fallois 2019, 172 S., 18,50 €

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