Angefangen hatte alles 1998, als ein Boot mit 217 kurdischen Flüchtlingen an der Küste des kalabrischen Fischerdorfes strandete. Der damalige Lehrer Domenico Lucano bot ihnen Häuser und Arbeit an. Plötzlich kehrte Leben in den von massiver Abwanderung betroffenen Ort zurück. Anfang Oktober wurde Lucano, seit Jahren der Bürgermeister Riaces, oder Mimmo der Kurde, wie ihn hier alle nennen, unter Hausarrest gestellt. In der Anklageschrift heißt es, Lucano soll Scheinehen organisiert haben, die Familiennachzüge ermöglichten. Er habe die Abfallentsorgung in Riace ohne Ausschreibung an zwei Kooperativen vergeben, die mit Migranten arbeiteten.
Italiens Innenminister Matteo Salvini twitterte: „Was sagen jetzt wohl die Gutmenschen?“ In den sozialen Medien formierte sich eine Solidaritätswelle: #iostoconmimmo, ich stehe hinter Mimmo. In Rom demonstrierten Hunderte unter dem Motto „Solidarität ist kein Verbrechen“. Roberto Saviano, Autor des Mafiabuchs Gomorrha, sagt in einem Video, die Festnahme Lucanos sei ein weiterer Beweis dafür, dass sich Italien unter der neuen Regierung in ein „autoritäres Regime“ verwandle.
Die Wandmalereien im Zentrum von Riace erinnern an Jahrtausende der Migration, denen der Landstrich im tiefsten Kalabrien ausgesetzt war. Riace war seit 800 vor Christus Teil des antiken Groß-Griechenlands. Die Griechen verstanden unter Italien nur den südlichsten Teil der Halbinsel. Kalabrien ist heute ein trauriger Landstrich am Ionischen Meer, überall stehen Zeugisse von Bauspekulation der ’Ndrangheta herum, der kalabrischen Mafia.
1999 gründete Domenico Lucano den Verein „Stadt der Zukunft“, der die Flüchtlinge in das Leben der Gemeinde integrieren sollte. Das Projekt wurde mit Hilfe europäischer Gelder erfolgreich. Unter den 2.300 Einwohnern in Riace sind mehrere hundert Migranten, sie kommen aus Zentralafrika und dem Nahen Osten. Viele wollen in der Region bleiben. Sie sind Teil der Gemeinschaft geworden.
Drohbriefe, Gewehrsalven
In Italien sind es die 100 Präfekturen, die Regierungsvertretungen in der Provinz, die über das Innenministerium Asylsuchende den Gemeinden zuweisen. Die Vereinigungen, die heute überall in Riace und Umgebung aktiv sind, haben es gemeinsam mit der Stadtverwaltung geschafft, die Straßen zu reinigen, Häuser zu renovieren und vergessene Handwerke wiederzubeleben. Sie haben Geschäfte, Buchhandlungen, und Bars eröffnet, Kindergärten und Schulen konnten erhalten werden. Einwohner und Migranten bekamen Arbeit.
Der Papst bewundert Domenico Lucanos Arbeit, Wim Wenders drehte einen Film über ihn, 2016 nahm das amerikanische Magazin Fortune den Bürgermeister in die Liste der 50 wichtigsten Personen der Welt auf. Im vergangenen Jahr wurde Lucano mit dem Dresdner Friedenspreis geehrt.
Sie nennen es freiwillig
Am 13. Oktober ordnete das italienische Innenministerium an, alle MigrantInnen im Dorf sollten umgesiedelt werden. Einen Tag später folgte das Dementi: Der Umzug sei freiwillig. Wer bleiben wolle, könne aber nicht auf Unterkunft und staatliche Gelder zählen.
Bis jetzt treffen sich die „fremden“ Kinder noch jeden Abend mit einheimischen zum Fußball und rufen in kalabresischem Dialekt über den Platz. Jetzt hat Italiens rechtspopulistischer Innenminister aber noch mehr Fakten geschaffen. Er hat angekündigt, alle Einwanderer aus dem Vorzeigedorf umzusiedeln. Die Migranten würden in andere Flüchtlingsunterkünfte in Italien gebracht, erklärte das Innenministerium. Zwei Jahre blockierte das Ministerium die Fördermittel für das Projekt „Sprar“ (Sistema di protezione per richiedenti asilo e rifugiati – Schutzsystem für Aslybewerber und Flüchtlinge). Wegen der ausbleibenden Zahlungen hat die Gemeinde nun zwei Millionen Euro Schulden aufgehäuft und musste den finanziellen Notstand erklären. Den von den Vereinigungen angestellten Mitarbeitern könnte nun ebenso gekündigt werden wie den Asylbewerbern. Der Bürgermeister kann für sein Dorf derzeit nichts tun, ohnehin hat Lucano noch andere Gegenspieler. Es gab bereits Drohungen der ’Ndrangheta gegen Vereine, die Migranten helfen: Drohbriefe und Gewehrsalven auf Fenster und Geschäfte. Einige Einschläge kann man an der Mauer eines Geschäftes noch sehen. Davor kehrt Malang, den sie hier Mario nennen, die Straße. Er hat in Gambia Landwirtschaft studiert und lebt seit zwei Jahren in Riace. Bis vor Kurzem, erzählt er, konnten sie noch mehrere Esel einsetzen, um den Müll vor den Häusern abzuholen. Nun ist ihnen wegen Budgetknappheit nur einer geblieben.
Am Hauptplatz von Riace, wo Gemeindetreffen und öffentliche Sitzungen stattfinden, da konnte man Bürgermeister Domenico Lucano manchmal treffen, als er noch ein freier Mann war. Er saß wartend auf der Treppe der geschlossenen Taverne Donna Rosa. „Die Regierung zerstört das Land, wir stehen in Gefahr, alles zusperren zu müssen, alles, auch die Kindergärten“, sagte er vor wenigen Wochen. „Wir könnten auch ohne Europa weitermachen, als unabhängiges Projekt, das sich selbst trägt. Aber die Wartezeit von zwei Jahren ist einfach zu lang gewesen. Die Schulden sind zu hoch“, beschwerte er sich. Im August dieses Jahres war der 60-Jährige in den Hungerstreik getreten, um sein Modell für das Dorf zu verteidigen. Die Worte des Bürgermeisters verbreiten sich dort, seine Angst wird von vielen in der Gemeinde geteilt. Bürger haben Schilder in ihre Fenster gestellt, auf denen steht: „Auch ich unterstütze Riace.“
Mimma, eine Frau von etwa 50 Jahren, betreibt das kleine Lebensmittelgeschäft im Ort. „Die Blockade der Gelder ist so, als stünde man in Trauer“, sagt sie. Warum? „Die Migranten haben uns wieder zum Leben erweckt. Die Neuankömmlinge fühlten sich immer sofort zu Hause bei uns, und uns kam es so vor, als hätten wir immer schon zusammengelebt.“ Die Kundin, die bei ihr im Laden an der Theke steht, nickt und schweigt.
Mohamed, ein 64-jähriger Iraker, oder Bayram, ein 65-jähriger Kurde, arbeiten seit vielen Jahren in Riace und haben sich hier niedergelassen. In den vergangenen Monaten hat Bayram die Terrassen des Parco Sara repariert und instand gesetzt, ein Park voller Weinstöcke und Oliven- und Zitrusbäume, unter die Bienenstöcke zur Erzeugung von Honig gestellt wurden. Neben Tischlerarbeiten, die er anbietet, arbeitet Bayram bei einem kommunalen Fahrerservice, der alte und gebrechliche Personen zum Arzt, ins Krankenhaus oder zum Einkaufen bringt. „Kommendes Jahr muss ich wahrscheinlich von hier emigrieren“, sagt er. Im Augenblick sieht es so aus, als müsse sich Bayram schon bald entscheiden, wohin die Reise gehen soll.
Der Bürgermeister
Ergänzung Mittlerweile ist Domenico Lucano wieder auf freiem Fuß, ein Berufungsgericht hatte den Hausarrest aufgehoben. Sein Dorf Riace muss der Bürgermeister jedoch verlassen, er darf dort nicht mehr wohnen und arbeiten. Wie es mit den im Dorf lebenden Migranten weitergehen wird, ist noch unklar
Foto: Soledad Amarilla/Ministerio de Cultura de la Nación/Wikimedia (CC 2.0)
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.