"New Deal" - keine Rolle rückwärts

Plädoyer für eine radikalreformerische Politik Die Rückkehr zum Crossover-Prozess von einst wäre wünschenswert

In unserer Debatte über die Zukunft des Sozialstaates hatte Ex-Juso-Vorsitzender Benjamin Mikfeld (Freitag 32/07) gefragt, wie es dem "postfordistischen Kapitalismus" gelungen sei, mehrheitsfähig zu werden. WASG-Mitbegründer Joachim Bischoff nannte "eine defensive Politik der reinen Verteidigung des Sozialstaates" unrealistisch und setzte sich für dessen Erneuerung dank "reformierter verteilungspolitischer Grundlagen", indirekter Wirtschaftssteuerung und eines demokratischen Aufbruchs ein. In dieser Ausgabe äußern sich Juso-Chef Björn Böhning und Benjamin Hoff (LINKE), Staatssekretär für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz im Berliner Senat, mit einem gemeinsamen Text sowie der Journalist Wolfgang Storz.

Albrecht Müller und Benjamin Mikfeld haben im Freitag Eckpunkte der politischen Auseinandersetzung in der bundesrepublikanischen Linken ausgemessen. Im Kern lautet die Leitfrage dieser Vermessung: "Was ist radikalreformerische Politik heute?"

Mitte der Neunziger wurde diese Frage in spannenden so genannten Crossover-Diskursen zwischen linker Sozialdemokratie, linken Grünen und dem Reformerflügel der PDS aufgerufen. Mit der verspäteten rot-grünen Machtübernahme 1998 endete dieser überparteiliche Austausch. Im Wesentlichen aus zwei Gründen: Regierungszeiten sind generell kein guter Humus für Debatten mit parteiübergreifendem Charakter. Darüber hinaus waren die Linken in den Regierungsparteien machtpolitisch eingebunden, aber auch an vielen Stellen domestiziert. Die oppositionelle PDS wiederum entwickelte ihr Oppositionsprofil ohne die Schwierigkeiten vieler realopolitischer Erforderlichkeiten.

Die Politik des alle Mitnehmens soll wieder für alle gelten

Wer heute an den Crossover-Diskurs anknüpfen und die Richtung radikalreformerischer Politik bestimmen will, muss vorher die veränderten gesellschafts- und parteipolitischen Koordinaten bestimmen. Auch wenn es zum Gründungsmythos der neuen Linken gehört und von Oskar Lafontaine bis Albrecht Müller gern apostrophiert wird, so beruht ihre Existenz nicht auf einem Versäumnis sozialdemokratischer Politik. Küchenpsychologische Annahmen von Müller, nach denen die SPD-Spitze kollektiv dem Wahn verfallen sei (Freitag 30/07), die von der eigenen Partei früher erfolgreich angewandten Instrumente wären überholt, gehen insofern ins Leere. Die Linke verdankt ihre Existenz vielmehr dem - gemessen an Crossover-Ansprüchen der postfordistischen Regulation - Unvermögen von Rot-Grün, die politische und soziale Gestaltung der Globalisierung in einem "New Deal" als Projekt auszugestalten, das im strukturellen Umbruch aufsteigende und absteigende Schichten verklammert.

Rot-Grün hat zwar die dringend notwendige Modernisierung der Gesellschaft vorgenommen, wie Mikfeld zutreffend darlegt. Dazu gehören im Wesentlichen das Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft, neue Wege in der Familienpolitik und ökologische Justierungen. Doch wurde durch Schröders Sozialreformen die eigene soziale Basis in der Wahrnehmung vieler Menschen abgekoppelt - wovon die Linkspartei heute profitiert.

Diese soziale Basis beschreibt der Parteienforscher Franz Walter als die Majoritätsgruppe nicht allein der Linkspartei, sondern der gesamten Republik. Er geht aus von einer "ergrauenden Gesellschaft", in der die geburtenstarken Jahrgänge des rheinischen Kapitalismus dominieren. Diese wurden durch die siebziger Jahre und das damals dominierende Wohlfahrtsstaatsverständnis zutiefst geprägt. Es ist insofern schon eine Frage, wie diese Mentalitäten und Einstellungen in ein radikalreformerisches, allerdings nicht beharrendes Politikkonzept eingebunden werden können. Denn dem Politik- und Gesellschaftsverständnis der von Walter identifizierten entscheidenden Wähler- und Bevölkerungsschicht entspringt ein zutiefst sozialdemokratischer Auftrag: Das Sorgen und Kümmern des Staates, die Politik des alle Mitnehmens, soll wieder für alle gelten. In dieser Hinsicht hat selbstverständlich auch eine Politik ihre Berechtigung, die staatliche Verantwortung mit einem Einsatz für eine gerechte Verteilung in der Gesellschaft koppelt, ohne die zentralen Frage der Wertschöpfung aus dem Blick zu nehmen. Dazu ist die angebotsorientierte Politik der letzten Jahrzehnte allerdings alles andere als angetan.

Mikfeld stellt klar, dass Müller und andere ihr staatsfixiertes Sicherheitsversprechen nicht in ein politisches Modernisierungsprogramm einfügen. Kurz: Ebenso wenig wie Schröder und die Autoren des aktuellen SPD-Programmentwurfes verfügen auch Müller, Lafontaine und Co. über keine komplexe Vorstellung eines "New Deal", der die Individualisierung der Lebensstile und das Verlangen nach mehr Selbstbestimmung einerseits und das Schutzinteresse gegenüber dem Wohlfahrtsstaat vor einem ökonomistisch-juvenilen Neoliberalismus andererseits in Übereinstimmung bringen kann.

Ein solches Arbeitsprogramm zur Entwicklung radikalreformerischer Politik muss demnach Fragen nach den Perspektiven von Staatlichkeit und öffentlichem Eigentum, von Makroökonomie im Finanzmarktkapitalismus und vorsorgendem Sozialstaat in den Mittelpunkt stellen.

Betrachtet man Untersuchungen von Allensbach, der Friedrich-Ebert-Stiftung und anderen, so ist feststellbar, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung auch künftig einen starken und handlungsfähigen öffentlichen Sektor wünscht, der Einfluss auf die gesellschaftlichen Entwicklungen nehmen kann. Mit den Worten von Ortwin Runde (SPD): "Die Menschen haben ein feines Gespür dafür, dass sich hinter den Parolen vom schlanken Staat ein schwacher Staat verbirgt, der nicht mehr in der Lage ist, für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu sorgen."

Statt also über Staatlichkeit der Siebziger zu debattieren, geht es um Rückgewinnung von öffentlicher Gestaltungsfähigkeit. Eine solche öffentliche Regulation setzt nicht allein auf den Staat, sondern geht von einem Verständnis aus, dass Freiheit und Gleichheit - zusammengefasst im Begriff der Solidarität - eine staatliche und eine gesellschaftliche Aufgabe zugleich sind.

Dass es sich dabei nicht um eine theoretische Hoffnung linker Grundsatzpapiere handelt, verdeutlichen die Debatte um die Re-Kommunalisierung vormals öffentlicher Unternehmen, die Kritik an der geplanten Bahn-Privatisierung und das Bedürfnis, Unternehmen der Daseinsvorsorge in öffentlicher Hand zu behalten. Der rot-rote Senat in Berlin etwa hat weitere Privatisierungen per Koalitionsvertrag ausgeschlossen. Mittlerweile wird in den Kommunen jedoch parteiübergreifend thematisiert, wo und auf welchen Feldern die öffentliche Hand künftig wieder gestaltend tätig werden soll. Diese neue Form der Regulation kann keine Rolle rückwärts in die frühere Globalsteuerung sein, und sie sollte aus linker Sicht von den autoritär-normierenden Tendenzen des deutschen Sozialstaats Abschied nehmen.

Abschied von den autoritär-normierenden Tendenzen des deutschen Sozialstaats

Auch in der neuen Regulation lassen sich Sozial- und Finanzpolitik nicht getrennt diskutieren. Beide sind nach Ortwin Runde "darauf angewiesen, dass eine dynamische Ökonomie die Ressourcen bereitstellt. Grundlage für eine dynamische Wirtschaft ist eine moderne, funktionsfähige öffentliche Infrastruktur, die wiederum von den Möglichkeiten einer ausgewogenen öffentlichen Finanzwirtschaft abhängt." Die Ausgewogenheit der öffentlichen Finanzwirtschaft setzt eine makro-ökonomische Erweiterung des auf Betriebswirtschaft reduzierten Verständnisses von Finanzmärkten voraus.

Häufig wird behauptet, die Finanzmärkte wären unreguliert. Das ist falsch, denn sie folgen einem globalen Ordnungsrahmen, der auf kurzfristige Renditen orientiert. Neue Regulation setzt darauf, die Investitionsfunktion der Finanzmärkte zu nutzen und deren räuberische Kurzfristigkeit zu beenden. Dazu bedarf es zwangsläufig einer über die Begrenztheit des Nationalstaates hinausgehenden, mindestens europäischen Zusammenarbeit. Die strategische Dimension eines glaubwürdigen europäischen Sozialmodells wird an der gescheiterten EU-Verfassung deutlich. Hätte es mehr Vertrauen darin gegeben, dass die EU auch die soziale Sicherheit der Menschen gewährleistet, hätten es die nationalstaatlich fixierten Kritiker deutlich schwerer gehabt.

Fazit: Ein neues Crossover ist erforderlich, weil SPD, Grüne und die LINKE der Frage ausgesetzt sind, warum rechnerische Mehrheiten politisch handlungsunfähig sind, ja nicht einmal als Drohpotenzial in Verhandlungen um eine große Koalition wirksam werden. Solange dabei aber politisch-taktische Farbenspiele und nicht inhaltliche Debatten über radikalreformerische Politik im Zentrum stehen, ist die Debatte ein mediales Ablenkungsmanöver vor den wirklichen Herausforderungen der Linken. Die Debatte kann letztlich aber nur entfacht werden, wenn SPD und Linkspartei sowie die Grünen aufhören, die Brücken zueinander abzubrechen. Dazu wird es erforderlich sein, dass die Beteiligten die Begrenztheit - und damit Ergänzungsbedürftigkeit - ihres jeweiligen Gestaltungsanspruchs erkennen.


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