Nach dem Willen der amerikanischen Veranstalter sollte nach der Totgeburt von Seattle schon bald in Genf ein weiterer Anlauf zu einer "Millennium Round" unternommen werden. Viele WTO-Mitglieder plädieren unterdessen für eine längere Denkpause, die dazu genutzt werden sollte, die institutionellen, vor allem aber politischen Gründe für den jüngsten Crash zu analysieren. Als scharfsinniger Beobachter und Akteur der brisanten Welthandelsszene neigt der französische EU-Kommissar Pascal Lamy zu ähnlichen Auffassungen, wie er in einem Interview für die Zeitung Libération nach der "Lektion von Seattle" zu erkennen gab.(Red.)
FRAGE: Wie beurteilen Sie den Crash von Seattle?
PASCAL LAMY: Was sich auf der WTO-Konferenz abgespielt hat, war - anders als jetzt oft dargestellt - vorhersehbar. Die WTO besaß schlicht Ambitionen, mit denen sie ihre vorhandenen Möglichkeiten gesprengt hat. Das gilt für die Institution selbst - also ihre Arbeitsmethoden, aber ebenso für die Verhandlungskultur.
Sie hat ein Erbe vom GATT (*) übernommen, das wie eine Art Spielwiese für reiche Länder erscheint. Sie konnten oft auf eine einfache, zuweilen obskure Weise ihre Agree ments aushandeln, die sich auf Zollregelungen und technische Standards des internationalen Handels bezogen. Die Globalisierung stellt das jetzt in Frage. Nunmehr müssen 135 Staaten miteinander debattieren und das stets im Kontext mit Themen wie Dienstleistungen, Umwelt, Gesundheit, Kultur, Sozialnormen. Damit stellt sich unbestreitbar ein Verwaltungs- und Rechtsproblem.
Aber dass sich in Seattle 135 Mitgliedsländer arrangieren mussten, war bekannt ...
Aber man wollte trotzdem in ein Flugzeug steigen, dessen Aggregate und Karosserie vor Dutzenden von Jahren gebaut wurden. Und man wollte bis zum Ende des Jahrhunderts alles, was anfiel, mit diesem Jet befördern. Unter solchen Umständen konnte man einfach nicht abheben.
Wollen Sie damit sagen, dass es de facto die Mängel der vorhandenen Institutionen sind, die ein Beherrschen der Globalisierung verhindern?
Ich ziehe keine derart definitiven Schluss folgerungen. Ich sage auch nicht, dass uns die Instrumentarien fehlen, um zu handeln. Aber ich stelle fest, die Ziele sind für die Mittel zu groß. Das ist die strukturelle Erklärung für das Scheitern von Seattle. Zusätzlich gab es natürlich eine Reihe konjunktureller Gründe: das äußerst unterschiedliche Verlangen, zum Erfolg zu kommen; das Bestreben der USA, möglichst nichts anzugehen, was den Wahlkampf um die Präsidentschaft tangieren könnte. Schließlich die Position der Entwicklungsländer - sie wollten zu verstehen geben, diesmal passiert nichts ohne uns.
War es unter diesen Umständen für die Europäer nicht so, dass sie in eine recht komfortable Rolle gerieten?
Wir sind mit einer Verhandlungstaktik dorthin gefahren, wir haben bestimmte Fortschritte ins Auge gefasst und sind eine Koalition mit Japan und Südkorea eingegangen, die signalisiert hatten, sie seien zu Konzessionen bereit. Ich selbst habe beim heiklen Thema Biotechnologien kein Blatt vor den Mund genommen - aber ich konnte nicht an den Verhandlungstisch kommen, eine "10" setzen und hoffen, mit einer "80" wieder zu gehen. Ich habe vor dem letzten Konferenztag die ganze Nacht verhandelt, aber die Amerikaner ließen sich um keinen Millimeter bewegen. Eindeutig ein Wahlkampf-Effekt. Hinzu kam das Thema Sanktionen (bei genmanipulierten Lebensmitteln - die Red.), ein außerordentlicher Fehler, der den amerikanischen Verhandlern natürlich völlig gegen den Strich ging und im ungünstigsten Moment angesprochen wurde.
Nach meinem Eindruck haben die Europäer stärker als die Amerikaner die Gewohnheit, Verhandlungen unter dem Gesichtspunkt der Souveränität zu führen ...
Das ist wahr. Ich habe aber dem WTO-Präsidenten Mike Moore in der Panik des Konferenzendes sagen können, dass auf Seiten der Europäer einige Vorschläge entstanden seien, was man jetzt mit der WTO tun könnte. Die WTO ist nun einmal deshalb eine so aufregende Veranstaltung, weil die Einsätze, über die entschieden wird, sehr konkret sind. Die Geschäftswelt interessiert sich enorm für die getroffenen Entscheidungen, weil die natürlich mit viel weitreichenderen Konsequenzen verbunden sind als vielleicht Beschlüsse der Internationalen Arbeitsorganisation oder der UNO.
Ist die WTO überhaupt das richtige Gremium für all diese Probleme - müsste man nicht einen stärker politischen Verbund haben, der sich an den EU-Institutionen orientiert?
Kein Zweifel, wir haben da in globaler Hinsicht ein institutionelles Problem. In theoretischer Hinsicht wurde darüber auch stundenlang debattiert. Man sucht im Prinzip den Jean Monnet (**) des kommenden Jahrhunderts. Monnet hatte damit begonnen zu analysieren, woran der Völkerbund als Vorgänger der Vereinten Nationen gescheitert ist. Und er hat daraus abgeleitet, was man tun könnte und wie. Meines Erachtens ist es höchste Zeit, das ganze System nochmals genau zu durchdenken. Wenn man sich die ganze Szenerie betrachtet, ist es doch völlig anormal, dass es eine WTO gibt, aber keine Weltorganisation für Umweltschutz ...
Müsste man demnach die WTO der UNO annähern?
Habt Erbarmen ...
Gut, einer reformierten UNO ...
Nein, man muss sich ganz konkret fragen, wie lässt sich mit diesem demokratischen, globalen System leben, in dem die USA, Bangladesh und Norwegen die gleiche Stimme haben. Man darf sich keinesfalls der Illusion hingeben, dass man Fortschritte erzielt, solange man versucht, alles nach streng rationalen Kriterien zu handhaben. Die Schwierigkeit ist, dass - im Unterschied zur EU - die USA nicht ein solches Interesse haben, das System zu "multilateralisieren". Und das wird demnächst mit China genauso sein, die Chinesen werden von einer Seite zur anderen schaukeln. Wenn beispielsweise die USA und China in den nächsten 50 Jahre eine Struktur sehr stabiler bilateraler Beziehungen entwickeln, wird es sehr schwer sein, damit zu leben.
Übersetzung Lutz Herden
(*) Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen über den Warenhandel von 1947. (**) Wegbereiter der 1952 gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die zum Vorläufer der Europäischen Wirtschaftsgemeinaft (EWG) wurde.
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