In diesen Tagen werden von den Kranken- und Rentenversicherungen die Ergebnisse der Sozialwahlen bekannt gegeben. Diese Wahlen, die zum 1. Juni per Briefwahl stattfanden, erscheinen vielen als nutzlos und teuer. Insgesamt etwa 46 Millionen Wahlberechtigte konnten die Selbstverwaltungsgremien für die Kranken- und Rentenversicherung wählen. Das kostete fast 50 Millionen Euro - aber die Selbstverwaltungen haben fast nichts unmittelbar zu bestimmen.
Doch die Selbstverwaltungen sind nicht überflüssig: sie sind die Vertretung der Einzahler, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, und arbeiten beispielsweise an Gesetzgebungsverfahren mit. Ihre Macht ist zwar begrenzt, denn die politischen Vorgaben für die Höhe von Renten- und Krankenkassenbeiträgen legt der Gesetzgeber fes
zgeber fest. Doch wenn die Kassenvorstände momentan immer neue Gründe finden, um die von Ministerin Ulla Schmidt angemahnten Senkungen der Kassenbeiträge abzuwenden, steht hinter ihnen der jeweilige Verwaltungsrat. Er trägt die ökonomische Verantwortung und bestimmt übrigens auch über die Höhe der Vorstandsbezüge.Beim größten Sozialversicherungsträger, der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), betrug die Wahlbeteiligung etwa 30 Prozent. Wenig, gemessen an Bundestagswahlen. Aber durchaus ordentlich gemessen an so mancher US-amerikanischen Präsidentenwahl, bei der normalerweise höchstens 50 Prozent erreicht werden. Und dennoch wanderte beim größeren Teil der Wahlberechtigten der Umschlag gleich in den Abfalleimer. Dazu kommt, dass in vielen Krankenkassen faktisch keine Wahlen stattfanden: die Sozialpartner einigten sich auf genauso viel Kandidaten wie Sitze zu verteilen sind. Das grenzt ans Absurde.Wie es dazu kam, zeigt ein Blick in die Geschichte. Mit Sparvereinen, Witwenkassen und Genossenschaften gab es im Deutschen Reich Vorbilder für selbstverwaltete soziale Einrichtungen. Als Bismarck die Sozialversicherungen schuf, wurden diese als selbstverwaltete Körperschaften eingerichtet, damit der Staat nicht unmittelbar hineinregieren konnte. Diese Entscheidung hat in der Tat über Jahrzehnte hinweg für eine Stabilität der sozialen Sicherung gesorgt, die im Ausland, wo der Staat steuerfinanzierte soziale Sicherung nach Gutdünken zuteilte, unbekannt war. Aber spätestens seit der großen Rentenreform 1957 durch Adenauer haben die Bundesregierung und der Bundesgesetzgeber immer mehr Kompetenzen an sich gezogen. Die Selbstverwaltung wurde ausgehöhlt. Deswegen haben auch die so genannten Friedenswahlen immer mehr um sich gegriffen. Dabei können die Vertreter gesellschaftlicher Gruppen (Arbeitnehmerverbände wie zum Beispiel Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) genau so viele Bewerber aufstellen wie es Sitze in der Selbstverwaltung gibt. Auseinandersetzungen um Sitze gibt es dann nicht mehr - deswegen nennt man dies "Friedenswahl". Fast der Hälfte der Sozialversicherten blieb so in diesem Jahr eine echte Wahl "erspart". Im wahrsten Sinne des Wortes wurde auch Geld gespart.Wem das absurd vorkommt, der sollte bedenken, dass die Rundfunkräte grundsätzlich nach genau diesem Muster per "Friedenswahl" besetzt werden. Man kann sich zwar über die Qualität des öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehprogramms trefflich streiten - aber es stellt ohne Zweifel ein sinnvolles Kontrastprogramm zum Privatfernsehen dar. Und ohne irgendeine Art der Selbstverwaltung wäre die Unabhängigkeit des staatlich geschützten Rundfunks nicht möglich.Ähnlich ist es auch bei den Sozialversicherungen: zwar haben die Selbstverwaltungen nicht viel zu sagen, aber man muss sich vorstellen, was ohne sie geschehen würde. Die Versicherten und Rentner hätten keine wohlorganisierte Stimme mehr - der Staat beziehungsweise der Finanzminister würden noch mehr als jetzt machen, was sie wollen. Ohne die warnende Stimme des Verbands Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) wäre das Rentenniveau ein Spielball der Politik. Und die Tatsache, dass in der Sozialpolitik die meisten politischen Entscheidungen im Konsens getroffen werden, liegt daran, dass die Weichen in den Selbstverwaltungen durch mühsame Gespräche gestellt werden.Im Gesundheitswesen wären ohne die Selbstverwaltung der Kassen nur die Anbieter der teuren Leistungen gut organisiert. Gerade bei einem stärker auf Wettbewerb ausgerichteten Gesundheitswesen, was ja alle fordern, ist eine Selbstverwaltung nötig: denn der Wettbewerb zwischen Krankenversicherungen ist nur sinnvoll, wenn er sich auf klar definierte Versicherungsleistungen bezieht. Ansonsten könnten Junge und Gesunde preiswerte Minimalsicherungen kaufen und sich erst im Falle eines schlechter werdenden Gesundheitszustandes umfassenden Versicherungsschutz zulegen. Deswegen ist es unstrittig, dass für mehr Wettbewerb ein "Standardpaket" definiert werden muss. Das fällt aber nicht vom Himmel und wir sollten es nicht dem Staat - und insbesondere dem Finanzminister - überlassen wie es aussieht. Hier spielen die Selbstverwaltungen der Krankenversicherungen bereits jetzt eine große Rolle. Zwar legen die Selbstverwaltungen das Standardpaket, das die Gesetzlichen Krankenkassen absichern, nicht unmittelbar fest. Aber die mittelbare Rolle ist wichtig und - wie auch immer im Detail organisiert - unverzichtbar. Wenn Horst Seehofer erst einmal zum Vorsitzenden des Sozialverbandes VdK gewählt sein und sich in der Selbstverwaltung persönlich engagieren wird, könnte die wichtige Rolle dieser Gremien auch öffentlich deutlicher werden.Gert G. Wagner ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der TU Berlin und Forschungsdirektor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).