Nicht blind

Nahost Die Perspektive der Palästinenser:innen kam zuletzt zu kurz. Muriel Asseburg füllt diese Lücke nüchtern und mit Sachverstand
Ausgabe 36/2021

Der Nahostkonflikt ist nicht allein im Anspruch auf Land begründet. Neben beinharten Interessen und kaltem Kalkül diverser Akteure, in und außerhalb der Region, geht es auch um unvereinbare Perspektiven. Der palästinensische Erziehungswissenschaftler Sami Adwan und der israelische Psychologe Dan Bar-On veröffentlichten 2003 ein Schultextbuch, das sie mit israelischen und palästinensischen Lehrer:innen erarbeiteten. Diese legten Seite für Seite in getrennten Spalten ihre Sicht auf die Geschichte dar. Ihre Betrachtungen sind faktisch richtig und berechtigt, stehen sich jedoch diametral gegenüber: So etwa ist Israels Gründung 1948 für Israelis Anlass zur Freude, für die Palästinenser ist diese dagegen die Katastrophe ihrer Vertreibung, die „Nakba“. Mittig zwischen den Narrativen klafft eine dritte Spalte. Die Herausgeber ließen sie leer, auf dass darauf eines Tages ein einziges, gemeinsames Narrativ verzeichnet werden könne. Bar-On betonte, es sei zwar schwer, widersprüchliche Narrative in sich zu vereinen, das genau sei aber geboten.

Klischeefrei ist rar

Im Widerspruch zu diesem Ansatz zur Konfliktlösung gebärdet sich der deutsche Diskurs derzeit sehr spalterisch – entweder pro-palästinensisch oder pro-israelisch, eine klischeefreie Haltung von Empathie für beide Seiten ist eher rar. Die rücksichtslosen Maßnahmen der israelischen Regierung unter Netanjahu und der US-Administration unter Trump haben das palästinensische Narrativ sogar erfolgreich aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt. Anstatt die Besatzung und schleichende Annexion palästinensischer Gebiete zu thematisieren, hat die Debatte sich überwiegend darauf verlagert, Kritik an der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern darauf zu untersuchen, ob sie antisemitisch sei.

Das neue Buch von Muriel Asseburg rückt diese Schieflage jetzt zurecht, indem sie mit viel Sachverstand die palästinensische Perspektive beleuchtet. Nüchtern macht die Nahostexpertin die Palästinenser:innen „als Handelnde in ihrer eigenen Geschichte“ sichtbar, angefangen mit den historischen Entwicklungen seit Ende des 19. Jahrhunderts bis heute. Ihr informativer Rundumriss wird von Kartenmaterial und Porträts bekannter palästinensischer Persönlichkeiten ergänzt. Asseburg, Senior Fellow an der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, beschreibt die palästinensische Identitätsbildung im Zuge des Aufkommens europäischer Nationalismen Anfang des 20. Jahrhunderts, die Gründung der PLO und schließlich der Palästinensischen Autonomiebehörde auf der Basis der Osloer Prinzipienerklärung 1993. Sie zeigt auf, wie politische Haltungen der PLO sich insbesondere in Bezug auf Israel wandelten, dazu gehörte die Annahme und Abkehr vom Terrorismus, die implizite Anerkennung des Existenzrechts Israels durch Arafat 1988 sowie die explizite durch die Osloer Friedensabkommen. Die Autorin erinnert an die weitgehend ignorierte Arabische Friedensinitiative von 2002, die Israel Frieden und Normalität anbot, sofern es sich auf die Grenzen von 1967 zurückziehe – und wie diese durch die von Trump vermittelten Normalisierungsabkommen zwischen Israel und einigen arabischen Staaten 2020 vollends ausgehebelt wurde. Sie greift das Thema Palästinaflüchtlinge, die relevanten Kriege und die Aufstände der Palästinenser (1987 und 2000) sowie sämtliche Friedensverhandlungen auf, die 2008 einstweilen zum Stillstand kamen.

Wertvoll ist, dass Asseburg Mythen benennt, die im internationalen Diskurs immer wieder gegen die Palästinenser:innen ins Feld geführt werden. So etwa behauptete der israelische Ministerpräsident Ehud Barak nach den gescheiterten Verhandlungen von Camp David 2000, es gebe auf palästinensischer Seite keine Partner für Frieden. Tatsächlich trugen alle beteiligten Akteure, auch die USA, zum Zusammenbruch der Gespräche bei. Ein Mangel an Kompromissfähigkeit ist vielen Verhandlungsführern nachzusagen, nicht zuletzt den israelischen. Aus den erläuterten Zusammenhängen wird deutlich, dass die israelische Besatzung nicht als vorübergehend, sondern völkerrechtswidrig auf Dauer angesetzt ist – ein Indiz sind die israelischen Siedlungstätigkeiten im Westjordanland, die nie ernsthaft aufgegeben wurden und häppchenweise zu Annexionen führen.

Doch nicht, dass die Autorin blind für problematische Haltungen oder Fehlentwicklungen aufseiten der Palästinenser:innen wäre. Weder schönt sie Arafats klientelistischen Führungsstil, noch verschweigt sie die Korruption in der Palästinensischen Autonomiebehörde unter Mahmoud Abbas. Vielmehr vollzieht sie die zunehmend autoritären Züge der PA nach, die sich im Laufe des Status quo der fortdauernden Besatzung unter dem Mantel einer bizarren Teilautonomie herausgebildet haben. Auch die kritikwürdige Hamas im Gazastreifen ist Teil ihrer Betrachtung, gleichwohl sie darauf hinweist, wie sehr die Islamisten sich dort realpolitisch verändert haben, und andeutet, es könne ein Fehler sein, sie international als Gesprächspartner zu isolieren. Opfer all dieser verpfuschten Prozesse und der Kriege ist die palästinensische Zivilbevölkerung. Gleichgültig, welche legitimen politischen Strategien ihre Vertreter verfolgten, sie blieben bislang erfolglos.

„Bisherige Beratungen und inoffizielle Ausarbeitungen zeigen (...), dass für alle Konfliktfelder Regelungen gefunden werden können, welche die unterschiedlichen Bedürfnisse der Konfliktparteien weitgehend vereinbaren. Auf dieser Basis ließe sich auch heute noch – theoretisch – eine Zweistaatenregelung umsetzen“, konstatiert die Autorin. Doch viel Hoffnung auf einen palästinensischen Staat an der Seite Israels sieht sie nicht. Palästinenser:innen hielten einen binationalen Staat mittlerweile für realistischer.

Palästina und die Palästinenser Muriel Asseburg C. H. Beck 2021, 365 S., 16,95 €

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