Seit über 20 Jahren ist Heribert Sasse an verschiedenen Häusern als Theaterintendant in Berlin tätig. Der gebürtige Österreicher, der am Max-Reinhard-Seminar in Wien studierte, wurde Anfang der siebziger Jahre von Boleslaw Barlog als Schauspieler an jenes Berliner Schloßpark-Theater geholt, das damals noch zu den staatlichen Bühnen zählte und nun laut Koalitionsbeschluss geschlossen werden soll.
FREITAG: Herr Sasse, Sie haben in Berlin Theatergeschichte gemacht. Von 1980 bis 1985 haben Sie das Renaissancetheater geleitet, und von 1985 bis 1990 die Staatlichen Schauspielbühnen. Seit 1995 leiten Sie das Schloßpark-Theater. Dabei waren und sind Sie einer der gefragtesten Schauspieler im deutschsprachigen Raum, warum wurden Sie trotzdem Intendant? Ist das nicht ein Widerspruch?
HERIBERT SASSE: Nein. Ich finde es gerade interessant, mich nicht nur in einem Beruf zu verlieren. Theater ist für mich ein Gesamtkunstwerk. Als Intendant kann ich das wesentlich einfacher gestalten, wie wenn ich nur Schauspieler bin.
Haben Sie etwas davon verwirklicht?
Absolut. Und wenn ich jetzt nicht durch eine willkürliche politische Entscheidung daran gehindert werde, mache ich das auch weiterhin. Das Renaissancetheater hab ich mit 750.000 Mark Jahressubvention und einer Auslastung von 68 Prozent übernommen, und mit 3,5 Millionen Jahressubvention und 91 Prozent Auslastung übergeben. Ich habe Schauspieler, Regisseure, Autoren entdeckt - der Sinn der Intendanz. Und das Schillertheater hab ich mit 56 Prozent Auslastung und 1,2 Millionen Mark im Minus übernommen, aber mit 86 Prozent Auslastung und einem Überschuss von 1.999.000 Mark übergeben: Das war kein Überschuss durch Sparen, das war einer durch Mehreinnahme! Dann hat die Viererdirektion** das Theater in zweieinhalb Jahren auf 19,5 Prozent Auslastung heruntergefahren und dann hat man es geschlossen, statt dass die Politik gesagt hätte, wir haben uns geirrt, wir nehmen einen neuen Intendanten.
Aber Sie haben die Generalintendanz doch freiwillig aufgegeben?
Nein. Der damalige Kultursenator Herr Hassemer hat zu mir gesagt, er sieht nur die Möglichkeit, dass mehrere in der Direktion sind und ich sollte - er nannte das "Tauchsieder", also das, was das Wasser schneller erwärmt, das war der Originalsatz - ich sollte überlegen, ob ich das mache? Ich dachte: Nein, ganz sicher nicht, keine Direktion zu dritt oder zu viert. Und da ich wusste, dass er dann mit höchster Wahrscheinlichkeit "na dann, danke schön" sagt, ging ich, bevor ich rausgeschmissen wurde. Ich klebe ja nicht am Sessel. Fünf Tage später war die Viererdirektion installiert.
Und fünf Jahre später haben Sie das Schloßpark-Theater übernommen, mit welcher Rechtsform?
Wir haben eine GmbH Co. KG.
Also steckt privates Geld von Ihnen in diesem Theater?
Ich bin Hauptanteiler mit 51 Prozent, das Theater selbst hat auch ein paar Anteile, und den Rest hat Herr Wisniewski, mein Partner. Der damalige Kultursenator Herr Radunski hat uns gebeten, dass wir eine Zwischenfinanzierung machen, die haben wir bei der Dresdner Bank aufgenommen mit der Zusage von Herrn Radunski, dass das baldmöglichst entschuldet wird - und jetzt hänge ich noch immer auf der Million herum, die ich privat für das Haus aufgebracht habe. Aber viel wichtiger ist, dass das von mir im leeren Zustand übernommene Haus mit 3,5 Millionen Mark Jahressubvention ein Drittel des Gesamtetats einspielt, das heißt, wir spielen fast 1,2 Millionen im Jahr ein! Wir haben mit rund 600.000 Mark Einspielergebnis angefangen und jetzt ist es fast das doppelte. Und die Einnahmen sind steigend. Man macht also nicht nur ein Theater, man macht eine Wirtschaft kaputt, man entscheidet gegen eine wirtschaftliche Entwicklung. Dabei machen die 3,5 Millionen Mark Jahressubvention von den 12,5 Millionen Mark täglichen Zinsen, die Berlin zu zahlen hat, nur etwa vier Stunden aus! Mit diesen vier Stunden kann man das Schloßpark-Theater ein Jahr ernähren!
In dem Gutachten heißt es, die Leitung des Schlosspark-Theaters ist zu sehr auf Sie selbst zugeschnitten?
Das hoffe ich, ob ich das bin oder Herr Peymann oder Herr Castorf, das jeweilige Haus hätte ja sonst keine Handschrift: Es muss auf die Leitenden zugeschnitten sein, aber das Gutachten nimmt in einer Weise Maß, dass kein Anzug passt. Darüber, dass es die Grundlage einer politischen Entscheidung sein soll, kann ich mich nur wundern, vor allem, da Herr Wowereit bisher noch keine Vorstellung hier gesehen hat, trotzdem "empfindet" er es als ein schrecklich "bürgerliches Theater", was soll das denn heißen? Es gibt schlechtes und gutes Theater, und verschiedene Formen von Theater, und das Schloßpark-Theater ist ein Theater für ein Publikum, was in seiner Struktur so ähnlich ist, wie das am Deutschen Theater.
Aber vielleicht hat Ihr Leitungsprinzip "Striese"*** keine Zukunft?
Je knapper das Geld wird, desto größer wird seine Zukunft. Wenn ich heute ein Gespräch mit Regisseuren und Bühnenbildnern habe, schätze ich schon bei der Entwicklung der Konzeption ab, was für Kosten auf das Haus zukommen, denn jede Idee initiiert ja Kosten. Da reicht ein theoretisches Grundwissen nicht aus, da muss ich wohl oder übel mich des Praktischen besinnen.
Und worin besteht Ihre Theater-Konzeption?
Das will ich Ihnen ganz einfach sagen: Ein Theater hat sich danach zu richten, wo es ist! Der Prenzlauer Berg wäre falsch beraten, wenn an der Spitze der Volksbühne Herr Sasse stünde, das ist sicher nicht mein Ding. Und das Schloßpark-Theater ist auch nicht das Ding von Herrn Castorf. Hier ist, wenn Sie so wollen, ein "bürgerliches" Publikum, aber ich sage das nicht abwertend, sondern dieses Publikum hat große Schauspieler, große Theaterabende gesehen, es hat eine große Tradition im Gucken. Deshalb ist es hier auch so schwer, des Kaisers neue Kleider hervorzuholen - denn die bleiben einfach weg! Es ist also völlig unsinnig, hier einen nackten Arsch über die Friedhofsmauer hängen sehen zu wollen.
Sie sind Österreicher ...
Jede Konzeption hat, ganz unabhängig von der Nationalität, mit der Person zu tun, die sie tut. Herr Marthaler wird kein Peter Stein, und Herr Stein kein Marthaler, und Herr Sasse wird kein Castorf.
Warum gingen Sie fünf Jahre nach der Wende davon aus, dass das Schloßpark-Theater, weitab von Mitte, erfolgreich sein würde?
Weil Berlin eine Kiezstadt ist. Als ich die Staatlichen Bühnen leitete, nahmen wir erfolgreiche Aufführungen aus dem Schiller- ins Schloßpark-Theater und umgekehrt, sie waren dort so voll wie hier, das heißt: Es ist ein Irrtum der Politiker, dass die große Masse mitzieht; jeder Kiez braucht "sein" Theater. Steglitz ist ein enormer Einzugsbereich, mit Lichterfelde, Lankwitz, Dahlem, Zehlendorf sind das etwa 500.000 Leute, dafür bauen andere Kommunen ganze Opernhäuser.
Und wie sehen Sie in diesem Kontext die Berliner Theaterlandschaft?
Die Theaterschließungen seit 1990 haben fast 100 Millionen Mark freigesetzt, aber was wurde aus ihnen? Sie flossen nicht, wie uns versprochen wurde, in die Kultur zurück, sondern sie versickerten. Und jetzt streicht der neue Senat auch noch die Lottogelder, den Kultur-Notgroschen. Davon aber, dass das Geld irgendwo zum Tragen käme, davon merkt man nichts. Es versickert einfach. Mit diesen Schließungen zog und zieht man die Mauern zwischen West und Ost höher, als sie jemals waren, auch das Benjamin Franklin-Klinikum gehört dazu, das liegt ja auch in Steglitz. Aber sie können den Westen nicht dermaßen ausbluten lassen.
Die PDS nahm das Schloßpark-Theater erst in Schutz, jetzt ist es umgekehrt, der neue Kultursenator Flierl ist für die Schließung?
Also mir hat er das noch nicht gesagt! Und es ist ja auch absurd, in der Wissenschaft und in der Kultur zu sparen, den einzigen Sparten, die für Berlin national und international etwas bewirken können.
Meinen Sie, der Westen wird durch den Osten "platt" gemacht?
Was heißt "meinen"? Das ist ja nicht meine Meinung, das ist ja schon Volkes Meinung. Wo Straßen, die gemeinsam zu begehen sind, gebaut werden müssten, da werden Gräben aufgerissen, wo Türen aufgestoßen werden müssten, da werden zwischen Ost und West Mauern hingestellt. Das ist ganz schlimm. Aber der Fisch beginnt immer am Kopf zu stinken. Diese Stadt, Deutschland - das krankt. In den Führungspositionen gibt es weder Visionäre noch die nötige Intelligenz noch das nötige historische Bewusstsein - und dadurch geht alles den Bach runter.
Auch das Theater ist in einer Krise -
Nein, das Theater hat keine Krise! Die Krise ist nicht am Theater, die Krise ist - ich sagte es schon - in der gesellschaftlichen Entwicklung dieses Landes zu suchen.
Mit ihr setzen sich aber weniger die subventionierten Theater, als die Freien Gruppen auseinander, die in dem Gutachten ja auch zur Förderung vorgesehen sind?
Die Freien Gruppen sind dazu da, zu experimentieren. Und ein subventioniertes Haus muss sich um sie kümmern, keine Frage, das eine befördert das andere. Die Freien Gruppen sind ein Innovator und ich glaube, es gibt heute niemand von denen, die sich etablierten, die nicht in einer Freien Gruppe gewesen sind, ich fing auch so an. Was ich aber in Anbetracht der Finanzlage gefährlich finde, ist, dass wahllos Zuschüsse gemacht werden, nur weil "Freie Gruppe" drübersteht. Wenn die mit 80 Plätzen 80 mal im Jahr spielt und dabei ihre Plätze mit 70 Prozent auslastet und dafür fast eine Million Mark erhält, dann finde ich das übertrieben. Denn es reicht nicht, dass eine Freie Gruppe sagt, wir sind gegen die festen Institutionen, und auch nicht, dass sie irgendwie in orangenen Hosen herumspringt. Ein Wille und eine Arbeit müssen sichtbar werden.
Und was wäre, wenn das Schloßpark-Theater ein Kinder- und Jugendtheater wird?
Schon die Jugendtheater in Mitte tun sich schwer: Das carrousel-Theater mit seinen, ich glaube, 14 Millionen Mark Jahressubvention wird ununterbrochen nachgebessert und es reicht immer noch nicht. Schau ich mir allerdings das "Grips" an, das Volker Ludwig seit Jahren auf ein weltberühmtes Niveau bringt, dann stellt sich mir beim carrousel-Theater die Frage nach der Effizienz. Das frage ich mich beim Schloßpark-Theater nicht. Was da für 3,5 Millionen Mark im Jahr geleistet wird, das ist fast umsonst! Es war der größte Fehler von mir, dass ich dieses Haus unterfinanziert übernommen habe, aber da hat man mir von Politikern Zusagen gemacht, auf die ich mich besser nicht hätte verlassen sollen.
Wird die Schließung des Schloßpark-Theaters nicht teurer, als die Aufrechterhaltung seines Betriebs?
In diesem Betrieb finden ungefähr 80 Schauspieler im Jahr ihr Brot, und etwa 30 bis 40 Leute sind fest in ihm beschäftigt: Wenn die alle aufs Sozialamt müssen, ist das sicher nicht viel billiger, als wenn man das Haus offen lässt, aber diese Rechnung machen ja die Herrschaften nicht.
Abwickeln müssen - ist das persönlich überhaupt auszuhalten?
Fragen Sie mich das nachher. Dass mit einem Mann, der hier in Berlin zwanzig Jahre nicht unwesentliches Theater gemacht hat, so umgegangen wird, ist eine große Enttäuschung, aber ich mache mir eher Gedanken um meine Mitarbeiter, was wird aus denen? Ich hab schon einmal die Koffer in Berlin gepackt, ich werd sie auch ein zweites Mal packen, wenn es zur Schließung kommt. Man muss gewollt sein in der Stadt, das ist keine Finanzfrage. In dieser Spannung lebt jeder Künstler, damit muss man fertig werden. Aber mit der Diffamierung ist schwer umzugehen. Die Leute, die das Gutachten gemacht haben, waren ja Leute vom Theater, und die schlagen in diesem Gutachten Theater zur Schließung vor! An mehr wird man sich bei ihnen zwar auch nicht erinnern, aber wenn das mein Lebenswerk wäre, Unglück und Dummheit und Infamie, da würde ich mich doch schon vorher aufhängen, aber bitte, jeder muss damit leben.
Das Gespräch führte Gerburg Treusch-Dieter
* Der Schließungs-Beschluss basiert auf einem Gutachten, das vom Kultursenator Christoph Stölzl noch zur Zeit des CDU-Senats in Auftrag gegeben und von der Kultursenatorin des rot-grünen "Übergangs"-Senats Adrienne Goehler akzeptiert wurde.
** Die Viererdirektion bestand aus Alfred Kirchner, Alexander Lang, Volkmar Clausz und Vera Sturm. Im Juni 1993 beschloss der Senat in einer nächtlichen Aktion das definitive Ende des Schillertheaters. Die von Protesten begleitete Schließung gilt als die einschneidendste kulturpolitische Spar-Maßnahme in der Geschichte der Bundesrepublik.
*** Striese - Der Name des Theaterdirektors in Gerhard Hauptmanns Ratten. Zum geflügelten Wort geworden für paternalistische Theaterdirektoren alten Stils, dem sogenannten "Komödiantenintendanten".
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