Nicht gealtert

KIND UNSERER ZEIT Der Patriarch Ekkehard Schall spielt im Theater 89 Horváths Roman als Monolog

Ödön von Horváth schrieb 1937 im Exil einen Roman mit dem Titel Ein Kind unserer Zeit, der 1938 im Querido-Verlag in Amsterdam erschien, kurz bevor Horváth seinen ebenso absurden wie irgendwie zu ihm passenden Tod fand. In der Form einer Icherzählung führte Horváth das Schicksal eines jungen Deutschen vor, der dem Heer der Arbeitslosen zu entfliehen vermag, indem er sich in das neue Soldatenheer eingliedert und voll und ganz mit den berauschenden Idealen einer neuen nationalen Größe identifiziert, sich schließlich als "Freiwilliger" am Überfall eines kleinen Landes - das deutlich als die spanische Republik erkennbar war - an Kriegsverbrechen beteiligt, als Verwundeter durch den Abschiedsbrief seines Hauptmanns, der sich nicht länger mitschuldig machen wollte, eine erste Verstörung seines Weltbildes erleidet und schließlich durch die Art des Undanks, den er durch das hehre Vaterland erfährt, in die Selbstzerstörung getrieben wird.

Auf die ersten langen Augenblicke hin musste es befremdlich erscheinen, wenn dieser monologische Lebensbericht eines Kindes unserer Zeit im Theater 89 in Berlin ausgerechnet durch einen Schauspieler dargeboten wurde, der inzwischen selbst das Patriarchenalter erreicht hat. Wenn Ekkehard Schall (in der Regie von Hans-Joachim Frank) stämmigen Schritts die mit Naturrasen und einer Parkbank versehene Bühne (Ausstattung Anne-Kathrin Hendel) betritt und übergangslos von den erhebenden Gefühlen berichtet, die der Held angesichts seiner raschen Beförderung beim Militär empfindet, kann das zuerst nur irritierend bis zum Gefühl der Unangemessenheit hin wirken.

Aber mehr und mehr schlägt die Befremdung in die Erkenntnis über, dass es sich dabei um eine durchaus wirksame Verfremdung handelt: Die fiktive Figur des nazibegeisterten jungen Soldaten erhält eine zweite Kontur, die eines der Millionen mehr oder weniger lädiert davon gekommenen Mitläufer, Mitmacher; der Täter, die auch selbst zum Opfer wurden, die heute im Aussterben begriffen sind, ohne dass sie wirklich etwas von den Grundlagen der Zeit begriffen haben, deren Kinder sie waren. Und in Umrissen erkennbar wird sogar die neue Generation der Enkel, die heute wieder auf die hehren Sprüche von nationaler Größe, von Weltgeltung, von Rettung der Zivilisation und Kultur hereinfällt und die kein anderes Schicksal haben wird, als das anonym bleibende Kind unserer Zeit der dreißiger Jahre bei Horváth.

Unschwer lässt sich ja das felsige Plateau, auf dem der Held zum Kriegsverbrecher wird, aus dem seinerzeit assoziierbaren Spanien in das heutige Afghanistan umdenken, so wie in dieser Landschaft andere Unheilsorten von Massakern, die im Namen von Humanität, "Freiheit und democracy" begangen wurden und werden, enthalten sind.

Diese assoziativen Überschneidungen werden durch die Lebenserfahrung des Schauspielers selber, die er in die Gestaltung einbringt, ermöglicht und herausgefordert. Daraus resultiert die hohe Variabilität, die Schall im Gebrauch seiner sprachlichen, mimischen, gestischen Ausdrucksmittel bezeigt. Mit kurzen Schritten, einigen langen Gängen lässt er neue Situationen entstehen. In ihnen vermag er durch Intonation und Modulation der Stimme, durch mimisches Detail, durch sparsame Gestik der Figur des Icherzählers wie der Hauptmannswitwe, der Hüterin eines verwunschenen Schlosses, das sein eigenes unentdecktes Wesen bedeuten mag, wie des traurigen Vaters eine vorstellbare individuelle Physiognomie zu geben. Ohne frühere Manierismen lässt der Schauspieler auch die kritische, ja ironische Distanz, die sarkastische Kenntlichmachung der Absurdität dieser Art von Gesellschaftlichkeit, die Horváth in die Erzählung einbrachte, aufblitzen. Noch nie war Schall so unambitioniert, seine Fähigkeit zur Exzentrik auszustellen. Er stand gleichsam immer neben den Figuren, um ihr Eigensein aus sich selber, nicht aus seinen Eigenheiten hervorgehen zu lassen. Im 19. Jahrhundert hätte diese Kunst, in einem zweistündigen Monolog aus einem Menschenbild ein Weltbild entstehen zu lassen und es einem Publikum zur Selbstauslegung vorzuführen, ausgereicht, ihm den damals als höchste schauspielerische Auszeichnung verstandenen Titel eines "Virtuosen" zuzuerkennen. Heute mag es ausreichen, ihn als Ersten Brecht-Schauspieler des angebrochenen Jahrhunderts anzuerkennen.

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