Nicht im Bilde

VERBRECHEN DER WEHRMACHT Kann die umstrittene Wanderausstellung des "Hamburger Instituts für Sozialforschung" das angekündigte Moratorium überleben?

Man "begrüße die Kritik an der Ausstellung über die Wehrmachtsverbrechen und die daraus resultierende Debatte". Auch wenn die Vorwürfe "im Einzelfall schmerzen mögen". Mit diesen Worten hatte das Hamburger Institut für Sozialforschung letzte Woche zur Pressekonferenz geladen. Das klang versöhnlich, denn bis vor kurzem noch hatten die Initiatoren um Leiter Hannes Heer Vorwürfe gegen die Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 als Kampagnen abgetan, gesteuert von Rechtsextremisten, ehemaligen Wehrmachtsoffizieren und der konservativen Presse.

Jetzt ist in drei Zeitschriftenartikeln die Auseinandersetzung über die Ausstellung neu entfacht worden. In den renommierten Vierteljahreshefte(n) für Zeitgeschichte übt der polnische Historiker Bogdan Musial nicht nur heftige Kritik an der Präsentation einiger Ausstellungsfotos, sondern zieht ihre Beweiskraft in Zweifel:

In einer Reihe von Fällen gäbe es verkehrte Bildlegenden, Ortsangaben seien falsch und Fotounterschriften verkürzt wiedergegeben. Die auf den Abzügen zu sehenden Opfer, so Musial, hätten die Ausstellungsmacher falsch zugeordnet. Schlimmer noch, gestützt auf Interviews mit Zeitzeugen und unter Verwendung anderer Fotografien aus polnischen Archiven führt Musial den Nachweis, dass zahlreiche Mordaktionen, von Mitgliedern des gefürchteten sowjetischen Geheimdienstes NKWD begangen wurden und nicht - wie die Ausstellung suggeriert - von der Wehrmacht. Man stelle sich vor, die Konrad-Adenauer-Stiftung hätte eine Ausstellung über die Verbrechen des NKDW in Auftrag gegeben und nachträglich würden sich Bilder von den Ermordeten als Opfer der Deutschen Wehrmacht herausstellen. Welch ein Aufschrei wäre dann zu Recht durch die Republik gegangen.

Der ungarische Historiker Krisztián Ungváry geht in seiner Kritik noch weiter. Nur knapp zehn Prozent der 801 im Ausstellungskatalog publizierten Bilder würden von der Wehrmacht begangene Verbrechen zeigen.

Sowohl Musial als auch Ungváry unter-stellen den Verantwortlichen der Ausstellung eine tendenziöse und damit agitatorische Bildauswahl. Außerdem warf Musial den Ausstellungsmachern einen naiven Umgang mit historischen Fotos vor.

Beide Historiker sind aber keine Revisionisten. So steht für Ungváry fest, dass der NS-Staat einen "rassistischen Krieg" vorantrieb, die Wehrmacht also "nicht von vornherein als ›sauber‹ betrachtet werden" könne. Auch Musial betont, dass es "hinreichend belegt, wenngleich nicht flächendeckend erforscht" sei, dass die Wehrmacht auf dem Balkan und in der Sowjetunion keinen "normalen" militärischen Kampf geführt habe, sondern einen Vernichtungsfeldzug gegen Juden, Kriegsgefangene, Partisanen und Zivilbevölkerung.

Das Bild von der untadeligen und unpolitischen Deutschen Wehrmacht ist nicht erst durch die "Vernichtungskrieg"-Ausstellung ins Wanken geraten. Bereits Ende der siebziger Jahre haben verschiedene Historiker vor allem aus dem Umfeld des renommierten Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Freiburg belegt, dass die Wehrmacht und ihre Soldaten in eine fanatische, unbarmherzige Kriegsführung eingebunden waren, die gezielt und rigoros Verbrechen im Sinne der nationalsozialistischen Aggressions- und Rassenpolitik begehen ließ. Das wird heute in der historischen Wissenschaft von niemandem mehr ernsthaft bestritten. Selbst der Bundestag hat in seiner Entschließung von 1997 diese Ansicht geteilt. Kontrovers ist allenfalls das Ausmaß der Mord aktionen, nicht aber die Tatsache an sich.

Auf der Pressekonferenz haben Jan Philipp Reemtsma für das Institut für Sozialforschung und Brigadegeneral a.D. Winfried Vogel für den Trägerverein zugesichert, die "Vernichtungskrieg"-Ausstellung durch eine unabhängige, externe Expertenkommission überarbeiten zu lassen. Mehrere falsch zugeordnete Fotos sowie solche mit unsicherer Zuschreibung hätte man bereits aus der Ausstellung entfernen und Bildunterschriften berichtigen lassen. Das gelte im übrigen auch für die englischsprachige Ausstellungsversion, die nun doch nicht Anfang Dezember in New York zu sehen sein wird.

Am Ende ging es nicht mehr allein um die Ausstellung. Der Ruf des Hamburger Instituts für Sozialforschung als Ganzes stand auf dem Spiel. Das war die subtile Botschaft, die Reemtsma den Pressevertretern verkündete.

Durch die Einbeziehung unabhängiger Wissenschaftler, sagte er, wolle man den "Glaubwürdigkeitsverlust", der gegen die Ausstellung in der Öffentlichkeit entstanden ist, nicht durch einzelne Korrekturen wegretouchieren. Die fundamentale Kritik Krisztián Ungvárys aber wurde mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen. Ungvárys These, innerhalb der Wehrmacht wären allein Feldgendarme und die Geheime Feldpolizei für Exekutionen zuständig gewesen, stehe im Widerspruch zur anerkannten NS-Forschung, so der Historiker und Leiter der Stuttgarter Bibliothek für Zeitgeschichte, Gerhard Hirschfeld, der dem Expertengremium angehören wird. Auch habe Ungváry einen viel zu engen Täterbegriff angelegt. Für den ungarischen Historiker sind Wehrmachtsverbrechen nur solche, die direkt von Wehrmachtssoldaten begangen wurden. Dagegen unterstellt die Ausstellung einen institutionellen Begriff, der etwa Verbrechen von Hilfstruppen mit einschließt, die unter dem Kommando der Deutschen Wehrmacht standen.

Ausstellungsleiter Hannes Heer gab auf der Pressekonferenz zu bedenken, dass "Fehlerkorrektur" etwas ganz Normales sei. Die habe es im Verlauf der nun fast fünfjährigen Wanderausstellung immer wieder gegeben. Vielleicht habe man nicht auf jeden Kritiker angemessen reagiert. "Ein Fehler und eine Leichfertigkeit" sei es zudem gewesen, in einigen Fällen den aktuellen Forschungsstand nicht hinreichend berücksichtigt zu haben. Entschuldigend verwies Heer auf eine "Lagermentalität", die sich angesichts der massiven öffentlichen und auch persönlichen Attacken bei den Ausstellungsmachern des Instituts ausgebreitet habe.

Natürlich wäre es einfach, sich jetzt in die Reihen der Kritiker zu begeben und zu sagen, man wusste es ja von vornherein. Inhaltlich brachte die Ausstellung ja auch nichts Neues, wie Hirschfeld bestätigte. Dagegen liegt ihre Bedeutung noch immer darin, über das Medium Fotografie ein Thema in die deutsche Gesellschaft zurückgebracht zu haben, dem auch die Geschichtswissenschaft allzu lange mit vergangenheitspolitischer Rücksichtnahme begegnete, so der Münchener Historiker Norbert Frei. Hätte man das erkannt und die handwerkliche Sorgfalt auf diesen Aspekt konzentriert, so wäre dem Institut die gegenwärtige Diskussion wohl erspart geblieben.

Aber berauscht von der öffentlichen Aufmerksamkeit glaubte man vermutlich im Hamburger Mittelweg, es mit einer außergewöhnlichen Arbeit, ja Berufung zu tun zu haben. Man schien es den Neokonservativen und Geschichtsrevisionisten aus den Zeiten des Historikerstreits zeigen zu wollen. Die Medien haben, wie immer wenn es um Polarisierungdebatten und Themenkarrieren von Ereignissen geht, diesen Faden dankbar aufgenommen: Indem sie von der Ausstellung berichteten, vergrößerte sich der öffentliche Fokus und hinterließ den Eindruck der außergewöhnlichen Bedeutsamkeit. Ein Schneeballsystem, das sich langsam dem Abhang näherte und alle miteinschloss: die Initiatoren, die Kritiker, egal welcher coleur, die breite Öffentlichkeit, die Parteien und Parlamente. Ein sich selbst reproduzierendes System falscher Wahrnehmung, das zur ritualisierten Kontroverse verkam. (Wieso sind Detailkritiken von Historikern erst jetzt, viereinhalb Jahre nach Eröffnung der Ausstellung zusammengetragen worden?)

Natürlich wollte jeder Sender, jede Zeitung dabei sein, wenn Antifakomitees und Neonazis aufeinandereinschlugen. Kaum jemand hat dieses Problem des medialen Kontextes hinreichend reflektiert. Weder die seriösen Ausstellungskritiker, noch das Hamburger Institut, das sich sozialwissenschaftlich nennt. Wo waren die internen kritischen Stimmen, die auf die reale Substanz der Ausstellung hinwiesen? Insofern hat Reemtsma erkannt, dass es nicht nur um die Glaubwürdigkeit einer Ausstellung ging, sondern um den Ruf des gesamten Instituts.

Schwerer noch als die handwerklichen Fehler wiegt ein weiterer Vorwurf Musials und des Münchner Historikers Horst Möller, dem Leiter des angesehenen Instituts für Zeitgeschichte. Beide vergleichen das Vorgehen der Ausstellungsmacher mit totalitären Systemen, denn es gäbe Hinweise dafür, dass der Wahrheit absichtlich nachgeholfen wurde, so Musial und Möller. Doch für diese Hypothese gibt es bislang keine Belege. Der Vorwurf ist haltlos. Man kann den Ausstellungsmachern keine absichtliche Manipulation unterstellen, wohl eher einen leichtfertigen Umgang mit den präsentierten Fotos. Was um so schwerer wiegt, angesichts des moralischen und konzeptionellen Anspruchs der Ausstellung. Reemtsmas Äußerungen zum Gebrauch der Fotos konnte man entnehmen, das Ganze diene zwar der Information, gleichzeitig aber auch der Emotionalisierung. Der Bilderkorpus würde darüber hinaus von der Mentalität der Soldaten erzählen, die da an den Galgen stehen oder an den Massengräbern der Exekutierten. Um so mehr muss jedoch die Naivität der Ausstellungsmacher im Umgang mit dem Medium der Fotographie verwundern.

So zeigte sich Heer erstaunt, dass die Besucher die Fotos nicht als informierende Verweise, sondern als Beweise gelesen haben - eine Funktion, die sie sicher nicht in jedem Einzelfall erfüllen können. Heers nachträgliches Erstaunen offenbart einen augenscheinlichen Mangel an Reflexion zur Funktion der Fotos als Mittel historischer Aufklärung und damit auf die Frage, ob überhaupt und unter welchen Bedingungen Fotos in der Lage sind, derartig komplexe Sachverhalte zu dokumentieren. Heer verteidigte sich auf der Pressekonferenz damit, dass man sich 1995 auf dem in der Geschichswissenschaft damals üblichen Standard befunden habe. Auch Norbert Frei hat die Ausstellungsmacher in Schutz genomen, indem er auf den "unterentwickelten" Stand der Disziplin zur Fotogeschichte verwies. Das wird bei der dringend gebotenen quellenkritischen Überprüfung des historischen Fotomaterials zu berücksichtigen sein und müsste im übrigen jede pharisäerhafte Häme über die handwerklichen Mängel ausschließen.

Doch in der historischen Quellenkritik darf sich das Moratorium nicht erschöpfen, wenngleich die bisher bekanntgewordenen Namen des Expertengremiums dies befürchten lassen. Mindestens ebenso dringend geboten erscheint ein Nachdenken über den besonderen Status des historischen Fotos und seiner Wirkungsweise unter den Bedingungen der modernen Mediengesellschaft. Man muss daran erinnern, dass die Bedeutung eines Bildes immer auch dadurch bestimmt ist, wo es rezipiert wird. Genau das scheint den Ausstellungsmachern weitgehend entgangen zu sein. Von daher wäre die Austellung auch in ihrem Inszenierungscharakter grundsätzlicher zu reflektieren. In der Stadt des "Bildhistorikers" Aby Warburg dürfte es dabei naheliegen, sich auch des Sachverstands jener kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen zu vergewissern, die sich schon länger mit dem Medium Bild auseinandersetzen und auch die historische Bildkritik bereichern könnten.

Es scheint aber auch, als hätten die Ausstellungsmacher die Hoffnung, dass erst mit dem Grauen vor Augen sich unser Blick auf die Wehrmacht verändern könnte, so wie Oskar Schindler bei der Räumung des Ghettos in Spielbergs Kinostreifen. Gesehenes Leid läutert - ist das tatsächlich ein probates Mittel angesichts unserer heutigen Mediengesellschaften mit ihren täglichen Gewaltdarstellungen in Wort und Bild? Wohlgemerkt, es geht hier nicht um ein Bilderverbot oder den Vorwurf der voyeurhaft-makabren Darstellung des Mordens, wie Michael Stürmer in der Welt formulierte, sondern darum, was Aufklärung sein kann.

Dass sich das Hamburger Institut für Sozialforschung zu einem mindestens dreimonatigen Moratorium bereit erklärt hat, lässt zumindest auf ein Ende der nur politisch-ideologischen Auseinandersetzung hoffen. Denn der Vernichtungskrieg der Deutschen Wehrmacht bedarf weiterer Erforschung und Debatte. Andernfalls würde den Geschichtsrevisionisten tatsächlich in die Hände gearbeitet.

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