Nicht mehr viel Tahrir übrig

Ägypten Die Muslimbrüder greifen mit ihrem Bewerber Mohammed Mursi bei der Stichwahl Mitte Juni nach dem höchsten Staatsamt. Schlägt das Land nun einen iranischen Weg ein?

Was ursprünglich als ägyptische Revolution galt – das Freiheitsstreben junger moderner Internet-Aktivisten – hat die erste Runde der Präsidentenwahl kaum beeinflusst. Dennoch war dieses Votum nicht umsonst, sondern ist historisch zu nennen. Trotz vieler Manipulationsvorwürfe und des skandalösen Fehlens einer neuen Verfassung, hat die Abstimmung Befindlichkeiten und Alltagssorgen des ägyptischen Volkes abgebildet. Wann gab es das je zuvor?

Es kann nicht weiter überraschen, dass die seit Jahrzehnten bestehende Organisation der Muslimbrüder mit ihrem Kandidaten Mohammed Mursi vorn liegt. Die gesellschaftliche Verankerung der Bruderschaft basiert auf sozialen Hilfswerken, denen viele – wenn nicht die meisten – Ägypter die nackte Existenz verdanken. Zudem versprach der mit knapp 25 Prozent für den zweiten Wahlgang qualifizierte Mursi: Seine Freiheits- und Gerechtigkeitspartei werde eine seit dem Mubarak-Sturz gewachsene soziale Unsicherheit und Kriminalität energisch bekämpfen. Letztere entsteht zwar durch die soziale Not der Unterschichten, zugleich aber leidet dieses Milieu am heftigsten darunter.

Mursis Wähler sind augenscheinlich damit einverstanden, dass Verbrechen aller Art mit den drastischen Mitteln der Scharia gesühnt werden. Die ist zu Teilen bereits jetzt eine tragende Säule der ägyptischen Justiz, soll künftig jedoch eine größere Rolle spielen. Dass Mursi erklärt, sich auch christliche Minister in einer von ihm geführten Regierung vorstellen zu können, widerspricht der Scharia keineswegs und beruhigt das westliche Ausland. Mursi will sich als Präsident auch gegen Bestrebungen wenden, die den Tourismus beeinträchtigen, was bei einem allgemeinen ­Alkoholverbot der Fall wäre. Derartige Verdikte würden die bedeutendste Einnahmequelle des Landes gefährden und damit das ökonomische Standbein des Militärs. Familienclans, die von dieser Branche wie der Bauwirtschaft profitieren, haben also nichts zu befürchten. Befürchten müssen künftig die Touristen, dass sie noch stärker als zuvor von den Realitäten eines wahrscheinlich weniger bunten ägyptischen Alltags abgeschirmt werden.

Als gefügiger Sachwalter von Interessen der Militärkaste gilt auch der gleichfalls mit 25 Prozent in die Stichwahl gelangte Ahmed Schafik. Er saß als Premier in der letzten Mubarak-Regierung und versteht sich heute als Anwalt der alten Nomenklatura und wasserkopfartigen Bürokratie. Obwohl sich nur wenige einen Lebensstil nach westlichem Muster leisten können, haben in Ägypten auch die kleinsten Bürokraten Privilegien, die sie derzeit in Gefahr wähnen. Sie hoffen für die Stichwahl am 16./17. Juni auf Schafik, obwohl der als Frontmann von gestern dann keine Chance mehr haben dürfte.

Es fällt auf, dass mit 20 Prozent und 4,8 Millionen Stimmen der linke Kandidat Hamdin Sabahi auf dem dritten Platz gelandet ist. Seine Partei der Würde beruft sich auf den einstigen Staatschef Gamal Abdel Nasser und eine Periode der sechziger Jahre, die zwar nicht sonderlich demokratisch ausfiel, aber als Zeit beträchtlicher Fortschritte in Erinnerung blieb. Damals wurde etwas für die Frauenrechte und gegen die Mädchenbeschneidung getan. Ägypten stellte eine eigene Industrie auf die Beine, die nicht nur Männern eine Arbeitsperspektive bot. Damit war es vorbei, als Nassers Nachfolger Anwar el Sadat das Land wieder für Warenflüsse aus dem Westen öffnete. Ein Signal, mit dem der Neoliberalismus auch in andere arabische Staaten eindringen konnte.

Sabahi hat es als Absolvent der Kairoer Fakultät für Massenkommunikation verstanden, nicht nur jenen Teil der Arbeiterschaft hinter sich zu bringen, die schon lange für unabhängige Gewerkschaften kämpft. Er verkörperte für viele Aktivisten der Tahrir-Revolution Mut und Glaubwürdigkeit. Weil er in der Stichwahl gegen Mursi nicht chancenlos wäre, hat Sabahi die Wahlkommission aufgefordert, das Ergebnis für den Mubarak-Gefolgsmann Schafik zu annullieren. Die Wahlordnung schreibe doch wohl vor, das Vertreter des alten Regimes nicht wählbar seien. Aller Voraussicht nach wird ihm kein Erfolg beschieden sein, doch könnte sich um Sabahis Partei eine moderne Linksbewegung formieren.

Die Glückwünsche von Außenministerin Hillary Clintons für Schafik bestätigen indes, dass die USA ihre Interessen durch den Wahlausgang nicht gefährdet sehen.

Sabine Kebir hat jüngst über die Tuareg-Rebellen in Mali geschrieben

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