Nicht mit uns

TTIP Der Anti-TTIP-Protest verbindet Menschen, die sonst nicht viel gemeinsam haben. Ökobauern, Richter, Digitalaktivisten: Wir porträtieren sieben Akteure
Ausgabe 44/2014

Die Befürworter des Freihandelsabkommens versprechen so einiges: mehr Jobs, mehr Wohlstand, höheres Pro-Kopf-Einkommen. Aber die Kritik reißt nicht ab. Der Widerstand gegen TTIP speist sich aus den verschiedensten Motiven. Wir porträtieren ihn hier anhand von sieben Akteuren und ihren Biografien. Die Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie zeigt aber: Egal, ob aus persönlicher Betroffenheit, einem länger anhaltenden Engagement oder grundlegender Systemkritik – diese Menschen wissen, dass sich nur etwas ändern lässt, wenn die Bürger weiter Druck ausüben.

Jörg Braunsdorf, Buchhändler

Seit den 80er Jahren ist Jörg Braunsdorf Buchhändler. Angefangen hat alles mit einem kollektiven Buchladen in seiner hessischen Heimatstadt Wetzlar, erzählt der 55-Jährige. Damals sei es um die gesellschaftliche Revolution gegangen. Heute gehe es vor allem um den Erhalt des Status quo. Seit fünf Jahren führt Braunsdorf die Tucholsky-Buchhandlung in Berlin-Mitte. Das geplante TTIP-Abkommen macht ihm Angst. Seine Befürchtung: Das Freihandelsabkommen könnte die Buchpreisbindung gefährden und damit die Existenz der deutschen Buchhändler. „Die Buchpreisbindung ist unser Schutzraum. Sollte es uns nicht gelingen, TTIP zu kippen oder eine Ausnahme für die Buchpreisbindung zu erwirken, stehen viele von uns vor dem Aus.“

Ohne kleine Buchhandlungen wäre Deutschland ärmer, ist Braunsdorf überzeugt. Er liebt seinen Beruf – die Gespräche mit den Kunden, das Lesen der Bücher. Um die Zukunft seiner Branche zu sichern, engagiert er sich gemeinsam mit anderen Einzelhändlern für den Verein „Buy local“. Der Verband setzt sich für die Stärkung des Einzelhandels ein. Eigeninitiative sei wichtig, sagt Braunsdorf. „Von der Politik bekommen wir keine klaren Informationen, wir müssen die Dinge selbst in die Hand nehmen.“ Neben Unterschriften- und Plakataktionen organisiert er Informationsveranstaltungen in seinem Laden. „Wir bekommen viel Zuspruch von den Kunden.“ Zumindest einen Teilerfolg hat er schon errungen: Der Kulturausschuss des Bundes widmet sich dem Thema demnächst in einer Sitzung.

Martin Wenning-Morgenthaler, Richter

Vor drei bis vier Monaten hat er zum ersten Mal von TTIP gelesen. In der Tageszeitung stand etwas über Geheimverhandlungen. „Da habe ich gegoogelt und angefangen, mich reinzulesen“, erzählt Martin Wenning-Morgenthaler, 55, Vorsitzender Richter am Landesarbeitsgericht Berlin. Er informierte sich auf der Website der Bundesregierung, dann bei der EU. Erst später erfuhr er von der TTIP-Protestbewegung.

Wenning-Morgenthaler stört sich an den privaten Schiedsgerichten, die mit dem Freihandelsabkommen eingeführt werden sollen. „Man hält es eigentlich nicht für möglich. Da sträuben sich wirklich die Nackenhaare.“ Konzerne könnten Staaten verklagen, wenn Gesetze ihre Profite gefährden. Gedacht sind solche privaten Schiedsgerichte eigentlich, damit Investoren auch in Ländern ohne funktionierende Justiz zu ihrem Recht kommen. In Europa und den USA sei dies aber „nicht mal im Ansatz nötig“, sagt Wenning-Morgenthaler. „Dieses Misstrauen gegenüber der Justiz finde ich eine bodenlose Frechheit.“ Bei aller berechtigten Kritik im Detail werde an ordentlichen Gerichten meist fair entschieden.

Die private Paralleljustiz hingegen passe „nicht in unsere Rechtskultur“. Die Schiedsrichter seien nicht unabhängig, Verhandlungen nicht öffentlich, Beteiligte nicht gleichberechtigt. „Das widerspricht den Grundprinzipien, wegen derer ich Richter geworden bin.“ Seit 22 Jahren arbeitet er in dem Beruf, zuvor war er fünf Jahre Anwalt. Sein Anspruch: „Recht und Gerechtigkeit möglichst nah zusammenzubringen“. Mit TTIP dürfte das schwieriger werden.

Leena Simon, Netzphilosophin

„Die letzten Jahre haben uns vor Augen geführt, dass in Amerika ein ganz anderes Verständnis von Privatheit und Datenschutz existiert, als wir es haben“, sagt Leena Simon, 30. Bereits als junges Mädchen interessierte sie sich für Computer, fühlte sich im männerdominierten Informatikunterricht aber lange nicht gefördert. Stattdessen begann sie Philosophie zu studieren. Die Debatten um Vorratsdatenspeicherung und Terrorismusbekämpfung nach dem 11. September lenkten ihren Blick auf Datenschutz und digitale Medien. „Ich hatte das Gefühl, ich wäre die Einzige, die sich daran stört“, erzählt sie. Die Technikphilosophie beschäftigte sich lieber mit Stammzellforschung und Atomenergie. Simon fand eine wissenschaftliche Nische, schuf sich ihr eigenes Arbeitsfeld.

Sie schreibt zu Datenschutz und digitaler Mündigkeit, hält Vorträge und versucht, den Feminismus in die Piratenpartei zu bringen. „Die Bundesregierung scheint noch nicht verstanden zu haben, dass starker Datenschutz wichtiger ist als der Abbau von Handelsschranken“, sagt sie, wenn man sie nach TTIP fragt. Als Referentin bei der Enquetekommission „Internet und digitale Gesellschaft“ machte sie desillusionierende Erfahrungen. Schnell habe sie da gemerkt, dass technische Möglichkeiten, die längst Realität sind, im Bundestag noch gar nicht wahrgenommen werden. Fassungslos macht die Netzphilosophin bei den TTIP-Verhandlungen aber noch etwas anderes: „Da werden Verträge im Geheimen ausgehandelt, während Nachrichtendienste und Konzerne ungehindert Geheimnisse von der Bevölkerung abgreifen.“

Boris Loheide, Kapitalismuskritiker

Die Bewegung boomt. Als Boris Loheide vor einem Jahr zusammen mit seinen Mitstreitern von der Kölner Attac-Gruppe ein Wochenendseminar zu TTIP veranstaltet hat, waren 30 Besucher da. „Heute kommen an einem Abend 150 Leute, und einige gehen wieder, weil wir nicht genügend Stühle haben.“ Loheide will aufklären über das Freihandelsabkommen. Die Leute sollen nicht bloß „auf die EU schimpfen oder auf die USA oder auf den Monsanto-Konzern“, sagt er. Es geht ihm um Kritik am System. „Hinter TTIP steht eine ökonomische Weltsicht.“ Als promovierter Volkswirt nennt er sie neoklassisch, als Attac-Aktivist neoliberal, als Linker kapitalistisch.

„TTIP dient dazu, den großen Konzernen das Leben einfacher zu machen.“ Umwelt- und Sozialstandards sollten aufgeweicht werden. Diese Probleme seien aber untrennbar mit dem Kapitalismus verbunden: Umverteilung von unten nach oben, Machtkonzentration bei den Konzernen, ökonomische und ökologische Krisen. „Das liegt in der Natur der Sache.“ Denken die meisten TTIP-Kritiker also zu kurz, wenn sie nicht das gesamte Wirtschaftssystem in den Blick nehmen? „Ich freue mich über eine tiefer gehende Kritik“, sagt Loheide diplomatisch. Bei Attac arbeitet er aber mit vielen zusammen, die das auch anders sehen. Als er 2001 begann, sich bei den Globalisierungskritikern zu engagieren, wurde nicht über Kapitalismus geredet. „Das K-Wort nahm man nicht in den Mund. Der Begriff galt bei Attac als zu dogmatisch.“ Heute gibt es diese Bedenken nicht mehr: „Nach den letzten Krisen wird jetzt auch ganz offen der Kapitalismus kritisiert.“

Knut Boeser, Drehbuchautor

Schon mit acht Jahren hat er gewusst, dass er Drehbuchautor werden wollte, erinnert sich Knut Boeser. Film als die große epische Erzählung der Moderne, die Macht der Bilder, das habe ihn früh begeistert. Seit den 80er Jahren schreibt er Filmvorlagen. Aus seiner Hand stammen Drehbücher für die ARD-Reihe Tatort, für deutsche Kinoproduktionen und die TV-Serie Der Havelkaiser. Er veröffentlichte zwei Romane mit der Kommissarin Rosa Roth, aber auch Sachbücher zum Theater Erwin Piscators.

Doch seit eineinhalb Jahren macht sich Boeser, der auch im Vorstand des Verbands Deutscher Drehbuchautoren sitzt, Sorgen um seinen Beruf. Sollte TTIP kommen, fürchtet er, wäre es bald „vorbei mit dem deutschen Film“. Rund 40 Prozent der deutschen Filme entstehen mit Hilfe staatlicher Förderung. In den USA dagegen werden 90 Prozent der Kulturausgaben privat erbracht. „Die Amerikaner sehen da eine Wettbewerbsverzerrung“, sagt Boeser. Seine Befürchtung: Die deutsche Filmförderung könnte wegen TTIP gestrichen werden. Es drohte der Verlust kultureller Vielfalt und die totale Dominanz Hollywoods.

Nicht, dass man ihn falsch verstehe: „Amerikanisches Kino ist wunderbar.“ Nur müsse der deutsche Film eine faire Chance auf dem Markt haben. Dafür kämpft der 69-Jährige. Er versucht „die Basis zu mobilisieren“, informiert andere Drehbuchautoren. Wenn TTIP nicht komplett zu kippen sei, müsste es zumindest eine Ausnahmeregelung für die Filmförderung geben. „Film ist ein Kulturgut. Und damit ebenso schützenswert wie Musik oder Literatur.“

Annette Sawatzki, Profiaktivistin

Nie zuvor haben so viele Menschen einen Online-Appell von Campact unterschrieben. Gegen TTIP sind es nun schon mehr als 640.000. Das ist auch ein Erfolg für Annette Sawatzki. Die 41-Jährige arbeitet bei der NGO Campact, die sich auf die Organisation von Onlinekampagnen spezialisiert hat. Sawatzki ist dort mit einer Kollegin zusammen für das Thema TTIP zuständig.

Bevor die Kampagne im Dezember vergangenen Jahres begann, gab es noch Zweifel. „Das Thema ist sehr abstrakt“, sagt Sawatzki. „Handelsverträge liest man nicht zum Spaß. Da brauchen auch wir Expertenrat.“ Trotzdem wurden einige zufällig ausgewählte Abonnenten des Campact-Newsletters befragt, was sie von einer Kampagne gegen TTIP hielten – und sie waren mit einer deutlichen Mehrheit für eine solche. Dass das Thema so gut funktioniert, erklärt sich Sawatzki damit, dass mehrere Lebensbereiche betroffen sind: Umweltschutz, Verbraucherschutz, Datenschutz, Arbeitnehmerrechte. Und dass viele Menschen die Demokratie in Gefahr sehen, den Geheimverhandlungen misstrauen. Die Bürger hätten ein „Gefühl der Machtlosigkeit“.

Die Campaignerin wird dafür bezahlt, dass sie sich ausschließlich mit dem Thema beschäftigt. Sie arbeitet zwei Tage in der Campact-Zentrale im niedersächsischen Verden, den Rest der Woche in Berlin. Sie liest Gutachten, verfolgt die Medien, spricht sich mit anderen NGOs ab, nimmt an Sitzungen und Telefonkonferenzen teil, beantwortet Fragen von Journalisten und Bürgern. Seit zweieinhalb Jahren ist sie bei Campact, hat sich dort bisher mit Vermögensbesteuerung, Mietpreisen und Agrosprit befasst – nun eben mit TTIP.

Ist der Vertrag noch zu stoppen? „Ich halte das für wahrscheinlich“, sagt sie. Schließlich sei seit kurzem der Text des europäisch-kanadischen Freihandelsabkommens CETA öffentlich, der als Blaupause für die TTIP-Verhandlungen gilt. „An CETA sieht man jetzt viel deutlicher, worum es geht. Bisher wurde die Debatte im Konjunktiv geführt. Aber jetzt geht die Diskussion über TTIP erst richtig los.“

Johanna Böse-Hartje, Ökolandwirtin

Es klingt zum Gruseln: „Der Monsanto-Konzern beabsichtigt, die komplette Welternährung in den Händen zu halten. Dann kann man Essen als Waffen benutzen.“ Johanna Böse-Hartje ist aber keine Verschwörungstheoretikerin, sondern Biobäuerin im niedersächsischen Thedinghausen. Sie kämpft gegen TTIP – und für eine bäuerliche Landwirtschaft. Die Gesellschaft müsse sich fragen, wer für die Herstellung von Nahrungsmitteln verantwortlich sein soll. Bauern oder Großkonzerne?

Die 61-Jährige führt einen Familienbetrieb. Sie, ihr Mann und ihr Sohn arbeiten auf dem Hof, außerdem wohnt ihre Schwester mit ihrem Mann dort. Seit 25 Jahren betreibt Böse-Hartje nun Biolandwirtschaft. Sie war eine der Ersten, die umgestellt haben. „Wir wollten eine weitgehend giftfreie Produktion haben. Es kann doch nicht sein, dass man mit Atemschutzmasken auf dem Trecker sitzt.“ Heute hält sie 170 Kühe und Ochsen sowie 440 Hühner, verdient ihr Geld mit Milch, Käse, Eiern und Fleisch.

Ihr Geschäftsmodell sieht sie durch TTIP bedroht. „Ganz Europa wäre nicht mehr in der Lage, selbst zu bestimmen, was produziert werden soll.“ Wenn etwa Gentechnik komplett verboten werden sollte, könnten US-Konzerne die Staaten deswegen verklagen. Von dem Freihandelsabkommen mit den USA hat Böse-Hartje vor eineinhalb Jahren erfahren, über ihre ehrenamtliche Mitarbeit bei der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL). Dort kämpft sie sonst gegen Gentechnik und ungerechte Subventionen. Immer gehe es aber darum, dass die Konzerne mehr Macht bekommen sollten, sagt sie. Vor sechs Jahren begann sie, sich zu engagieren: „Damals ging es um kostendeckende Milchpreise. Mittlerweile bin ich bei TTIP angekommen.“

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