Nicht nur für Studienräte

Lektion Die historischen Details bei Volker Kutscher sind präzise, Spannung käme sogar ohne Lovestory auf
Eine Zeitreise in das Berlin der Zwischenkriegsjahre
Eine Zeitreise in das Berlin der Zwischenkriegsjahre

Foto: AFP/Getty Images

Man nehme einen Kommissar, der seinen weichen Kern sorgsam unter einer harten Schale versteckt und füge eine ordentliche Portion Hartnäckigkeit, den Hang zu gelegentlichen Alleingängen und eine Prise Gerechtigkeitssinn hinzu. Den fertig gebackenen Kommissar versetze man in eine spannende Zeit und Stadt. Besonders gut eignet sich hierzu das Berlin zwischen den Weltkriegen. Als Würze funktioniert auch eine kleine Liebesgeschichte, dazu eine extra Portion Lokalkolorit durch einige Passagen im Dialekt. Das Ganze wird gut verrührt und am Ende mit einigen zeithistorischen Bildern garniert. Fertig ist der historische Berlin-Krimi.

Will man aber statt fadem Krimi-Brei Gourmetküche genießen, empfiehlt es sich, zu den vier, bis jetzt erschienenen Krimis des Kölner Autors Volker Kutscher zu greifen. Denn obwohl sich Kutscher der Rezeptur bedient, sind seine Berliner Kriminalfälle um Kommissar Gereon Rath extravagantere Kompositionen. Das liegt in erster Linie daran, dass hier Geschichte nicht nur als Kulisse dient, sondern erzählt wird. In Der nasse Fisch, Gereon Raths erstem Fall, stehen die Straßenkämpfe zwischen Polizisten und Kommunisten im Blutmai 1929 im Mittelpunkt, im zweiten, Der stumme Tod, war die Beerdigung des nationalsozialistischen Helden Horst Wessel einer der Höhepunkte und im dritten, dem Fall Goldstein, beschreibt Kutscher die gesellschaftlichen Verwerfungen durch die Wirtschaftskrise und den Aufstieg der SA. Der jetzt vorliegende vierte Fall des Kommissars Gereon Rath, Die Akte Vaterland zeigt anhand der Entwicklung einer masurischen Kleinstadt, die vor Konservatismus und Deutschtümelei geradezu dampft, wohin die Reise in Deutschland nach 1933 geht.

Keine abgeschmackte Kost

Die geheime Schlüsselszene des Romans ist der sogenannte Preußenschlag vom 20. Juli 1932, mit dem die preußische Demokratie ihr Ende fand. Charly Ritter, Kommissaranwärterin und Verlobte des ermittelnden Kommissars, erlebt, wie der Berliner Polizeipräsident vor den Augen der versammelten Polizeibeamten verhaftet wird. Obwohl die Mehrzahl der Beamten mit der Absetzung nicht einverstanden ist, wagt es keiner einzugreifen. Kommissar Rath ist bei dieser entscheidenden Szene nicht anwesend, denn er folgt den Spuren eines Serienmörders. Das erste Opfer, ein Lieferant für Branntwein, wird im Haus Vaterland – dem damaligen Epizentrum des Berliner Amüsierbetriebes – gefunden. Opfer Nummer zwei ist ein Verkehrspolizist, der im Turm der berühmten Ampel am Potsdamer Platz bei laufendem Weltstadtverkehr ermordet wird. Kommissar Rath reist nach Ostpreußen und vergräbt sich tief in die Vergangenheit der Opfer, während seine Freundin Charly in Berlin ermittelt. Es geht um Schnapsschmuggel und einen Eremiten, der in den masurischen Wäldern lebt. Von allen nur der Kabuk genannt, nach dem märchenhaften Unhold der tief in den Wäldern haust, ist er die zweite Hauptfigur des Romans. Als Unzivilisierter ist er zu menschlicheren Gesten fähig als jene Gesellschaft, die durch die bereits tiefbraun gefärbten Treuburger und den Schnapsfabrikanten Gustav Wengler verkörpert wird.

Volker Kutschers besondere Kunst besteht darin, das Berlin der Zwischenkriegsjahre atmosphärisch auferstehen zu lassen. Mythologische Berlin-Orte, zu denen spätestens seit Kracauer und Hessel auch das titelgebende Haus Vaterland gehört, werden zu Schauplätzen mit einem eigenen Alltag. So erhalten sie statt einer weiteren Schicht verklärenden Fassadenlackes einen doppelten Boden, der den Leser ins Ungewisse führt und neue Perspektiven auf die Vergangenheit eröffnet.

Die Akte Vaterland ist ein Kriminalroman, den man nur schwer aus der Hand legen kann, auch wenn in diesem Band die Liebesgeschichte zwischen Kommissar Rath und seiner Freundin Charly bisweilen sehr im Vordergrund steht und Bösewichte in den eigenen Reihen sehr grob gezeichnet sind.

Die Akte Vaterland, Gereon Raths vierter Fall Volker Kutscher Kiepenhauer & Witsch 2012, 576 S.,
19,99 €

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