Eine Zweitagestour an die Wirkungsstätte des Meisters in Genf. Fünf Tage auf den Spuren seiner umtriebigen Exilantenzeit, beides angeboten von einem Veranstalter historischer Reisen. Zahlreiche Ausstellungen, Vorträge und Konzerte. Und schließlich eine breite Debatte um Arbeitsethos, Mäßigung und Nüchternheit - Eigenschaften, die im Ruf seines ideellen Erbe stehen, und ihre Wirkung auf die vermeintliche nationale Identität. Dies ist nur ein kleiner Auszug aus dem Eventreigen, mit dem in den Niederlanden der 500. Geburtstag des Reformators Johannes Calvin am 10. Juli begangen wird. Seine treuesten Jünger jedoch stehen auch während der monatelangen Feierlichkeiten da, wo sie immer stehen - im Abseits. Und das ist ihnen ganz recht.
Keine der Ju
ine der Jubiläumsveranstaltungen befasst sich mit den rund 300.000 sogenannten ´Ultrareformierten´, und von sich aus sucht diese Gruppe von Gläubigen die Öffentlichkeit erst recht nicht. In kleinen, verschlossenen Gemeinschaften leben sie auf dem platten Land, in einem Streifen, der sich vom Südwesten bis zum Nordosten diagonal durch die Niederlande zieht. Wenn in den Städten, in denen mehr als die Hälfte der Menschen keiner Religionsgruppe mehr angehört, vom "bible belt" die Rede ist, verdreht man die Augen oder lächelt mitleidig. Gelegentlich liest man in der Zeitung von eine Masern- oder Mumpswelle in dem Gebiet, weil die Radikalsten ihre Kinder nicht impfen lassen. Oder von Lokalpolitikern, die gegen eine Tour de France-Etappe vorgehen, weil diese im kommenden Jahr durch einige orthodoxe Dörfer führen soll - an einem Sonntag. Die Fundamentalisten sind eine kuriose Randerscheinung der säkularen Gesellschaft, Exoten im eigenen Land, und der lebende Beweis, dass Parallelgesellschaften sich nicht über Bärte und Pluderhosen definieren. Frauen und Männer: "gleichwertig, aber nicht gleich"Eher schon über die Bibel, denn dass diese den Willen Gottes beinhaltet und daher unfehlbar ist, bildet die Grundlage aller reformierten Kirchen in den Niederlanden. Die Hardliner jedoch bestehen zumeist auf die erste Übersetzung in niederländischer Sprache von 1618. Deren Inhalt wird wörtlich genommen, Exegese und Interpretationen sind tabu. Späteren Versionen misstraut man ebenso wie moderateren Varianten des Calvinismus, die beispielsweise das Frauenpriesteramt eingeführt haben.Das Spektrum reformierter Christen in den Niederlanden ist ein unübersichtliches Sammelsurium von Strömungen, ein Spiegelbild der zahlreichen Abspaltungen, die das Streben nach der reinen Lehre gerade im 19. und 20. Jahrhundert mit sich brachte. Wer sich sonntags in eine der radikalen Hochburgen verirrt, kann dort Szenen mit Museumswert beobachten. Zwei, mancherorts gar dreimal täglich pilgern die Menschen zum Gottesdienst, die Herren sauber frisiert und gescheitelt, die Damen in langen Röcken, den Kopf mit einem Hut bedeckt, die Haare darunter geknotet. Ab und an führt der Wind Orgeltöne und Choräle mit sich. Den Rest des Tages herrscht unwirkliche Stille auf den leblosen Straßen, während die Gläubigen ihre Zeit dem Bibelstudium und der Familie widmen. Letztere nimmt im Leben der "Ultrareformierten" eine zentrale Stellung ein: zehn und mehr Kinder sind in ultraorthodoxen Gemeinden auch heute keine Seltenheit. Die Aufgabe der Frau ist mit Haushalt und Erziehung klar umrissen. "Gleichwertig, aber nicht gleich", nennt man in diesen Kreisen das Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Auf politischer Ebene repräsentiert die "Staatskundig Reformierte Partei" (SGP) die Radikalcalvinisten. Sie begreift die Bibel als Anleitung politischen Handelns. Weil sie daraus ableiten, dass Frauen keine Ämter bekleiden dürfen, stand sie vor einigen Jahren schon einmal kurz vor dem Verbot. Hausbesuche und KirchenzuchtDer Einfluss von Jubilar Calvin ist derweil allenthalben spürbar. Sei es durch seine Lehre der Prädestination, der göttlichen Vorbestimmung des menschlichen Schicksals, oder das Bild, nach dem allein die Gnade Gottes die Menschen aus Sünde und Verdammnis retten könne. Soziale Kontrolle ist ein Eckpfeiler im nach innen gerichteten Leben der Ultraorthodoxen. Auch die regelmäßigen Hausbesuche durch Kirchenvertreter, denen sich die Gemeindemitglieder unterziehen, gehen auf das von Calvin vertretene Prinzip der "Kirchenzucht" zurück. Die Disziplinarmaßnahmen für abweichende Lebensstile reichen dabei bis zur Exkommunizierung. Der Außenwelt hingegen steht man bestenfalls distanziert gegenüber. Was dem Rastafarian Babylon, ist der reformatorischen Vorhut der Hedonismus der Mehrheitsgesellschaft. In Popkultur, Tanz, Theater und Kino lauert die Verführung, Fernsehen ist verpönt, Radio und Internet teilweise auch. Medial begnügt man sich mit dem ultrakonservativen Reformatorisch Dagblad. "Zwar auf der Welt, aber nicht von der Welt", lautet eine gängige Bestimmung des eigenen gesellschaftlichen Status. Die SGP ihrerseits hat sich im letzten Herbst von ihrer früheren Forderung nach einem Gottesstaat verabschiedet - aus Angst, Vergleiche mit Islamisten auf sich zu ziehen. Schweren Herzens offenbar, denn der Fraktionsvorsitzende Bart Van der Vlies verkündete zu diesem Anlass: "Ich habe Mühe, einen neutralen Staat anzuerkennen. Der Staat ist der Diener Gottes, diesen Punkt will ich nicht loslassen."