Der Gartenzwerg auf einer Vorgartenwiese im nordhessischen Cölbe, das Geburtshaus Hitlers in Braunau am Inn, die Grenze der Zeitzonen MEZ und EET: Wo ist die Mitte Europas? Regisseur und Autor Stanislaw Mucha (Absolut Warhola) interessierte sich im Film Die Mitte, der nun auch schon wieder in den Programmkinos verplätschert, nicht für Mittel- oder Flächenschwerpunkte, nicht für wissenschaftliche Belege. Er ließ an Orten, die sich selbst für die Mitte Europas halten, Passanten plaudern. Der Film ist nur ein Symptom dafür, dass eine Frage in der Luft liegt: Was ist Europa?
Die Frage treibt auch den Verband Deutscher Schulgeografen um. Wenige Tage nach der EU-Erweiterung am 1. Mai ging ein Leserbrief dieser ehrenwerten Institution bei einer Zeitung ein:
bei einer Zeitung ein: Warum denn die neuen EU-Ländern immer "Mittelosteuropa" genannt würden? Das Baltikum könne als Osteuropa durchgehen, die Slowakei und Ungarn als Ostmitteleuropa, aber Mittelosteuropa, das sei doch wohl die Moskauer Region. Ebenfalls in jenen Maitagen errechnete das französische Nationale Geographische Institut (IGN) den Ort Kleinmaischeid bei Koblenz als Mittelpunkt der erweiterten EU - der 42. Ort allein in Deutschland, der sich als Europas Mitte bezeichnet. Noch 1989 hatte das IGN festgestellt, die kontinentale Mitte liege in Litauen, im vermeintlich neuen Europa. Zum kleinsten gemeinsamen Nenner von Nordkap und Malta, Atlantik und Ural, zum - wissenschaftlich formuliert - Flächenschwerpunkt des Kontinents kommt, wer aus der litauischen Hauptstadt Vilnius rund 20 Kilometer nach Norden fährt, halblinks von der Landstraße abbiegt, sich zu einer Wiese durchschlägt, die so sanft gewölbt ist wie die umliegende Landschaft, von Eiszeitgletschern rundgeschliffen. Auf einem Felsbrocken dort ist eine Windrose eingemeißelt: das geographische Zentrum Europas, 25 Grad 19 Minuten östlich vom Greenwich-Meridian, 54 Grad 54 Minuten nördlich des Äquators. Am 1. Mai zogen sie an dieser Stelle das Sternenbanner der EU hoch. Purnuskes heißt das nächste Örtchen. Viele der Litauer hier sprechen polnisch.Eine begehbare Hütte auf Federbeinen, schwankend wie das "Europäische Haus" 17 Kilometer entfernt steht eine Pyramide. Um sie herum zeigen Platten im Gras die Richtung und Entfernung von Berlin und Brüssel, aber auch von Moskau und Kiew, von Tbilissi und Chisinau. Europa ist groß. Vor allem in Richtung Osten ist es größer, als man in Paris und Berlin, in Cölbe und Kleinmaischeid meist so meint. Die Pyramide steht im Europos Parkas und stammt vom Bildhauer Gintaras Karosas, der den Skulpturenpark 1991 gründete. Seither haben sich hier Künstler aus aller Welt mit dem Thema "Europa" befasst. Ein dehnbarer Begriff. Dennis Oppenheim lässt eine Kreuzung aus Elefant und Planwagen aus einem Teich trinken. Der Tscheche Alesz Vesely hat aus Stahl eine begehbare Hütte auf Federbeinen gebaut, die schwankt und hallt und Krach erzeugt. Das Europäische Haus? Parkchef Gintaras Karosas setzt auf Publikumsbeteiligung und das mit Erfolg: Der Park ist beliebt, verbucht rund 40.000 Besucher im Jahr: Hochzeitsgesellschaften zum Fototermin, Geschäftsleute mit Gästen. Als Karosas die Bürger von Vilnius aufrief, ausgediente Fernseher zu spenden, kamen etwa 3.000 zusammen. Sie bilden jetzt ein Labyrinth, in dessen Mitte eine alte Lenin-Statue liegt.Dieser Lenin reicht den Autoren von Fernsehdokumentationen offenbar nicht. Sie werfen oft alles zusammen: Der Skulpturenpark markiere die Mitte Europas, heißt es dann, und alte Statuen aus Sowjet-Zeiten stünden dort. Auch "Mitte"-Macher Stanislaw Mucha wirft nonchalant das Mitte-Kaff Purnuskes, die Fernseher im Skulpturenpark und Statuen von Marx, Lenin und Stalin zusammen. Dabei stehen die gute 100 Kilometer von Vilnius und Europas Mitte entfernt in Stalin World, wie westliche Medien den "Sowjetischen Skulpturen-Garten im Grutas-Park" in Anlehnung an Disney World getauft haben.Noch vor zwei Jahren waren die bronzenen Standbilder schwer zu finden, die seit April 1991 von den Plätzen Litauens verschwunden waren. In einem namenlosen Industriegebiet am Flughafen von Vilnius lagen hinter Maschendraht zwischen Unkraut und Autowracks die Mammutskulpturen auf einem Fabrikhof, bereit zum Einschmelzen. Davor hat sie Viliumas Malinauskas bewahrt. Der frühere Rotarmist, Kolchos-Chef und Schwergewichts-Ringkämpfer begann gleich 1991 mit dem Export von Pilzen und Konserven, verdiente Millionen - und legte ein paar davon in Bronze an, auf 30 Hektar beim Kurort Druskininkai mit seinem verblichenen Glanz aus alteuropäischem Bürgercharme und sowjetischen Betonferienhäusern. In trocken gelegtem Sumpfland stehen Marx und Engels und einheimische Parteigrößen im Wald, tonnenschwer, bis zu neun Meter hoch. Von Stacheldraht umzäunt, von Gulag-Türmen bewacht, von Lautsprechern mit Marschmusik beschallt. Knapp 70 Statuen hat Malinauskas zusammengetragen, Stalin ist nur einmal dabei, schon 1960 vor dem Bahnhof von Vilnius abmontiert. In seinem abgebrochenen Daumen, heißt es, niste ein Vögelchen.Alteuropäischer Geist atmet in den Altstädten des Ostens wohl doch freierLeonas Kerosierius, Veteran der litauischen Unabhängigkeitsbewegung, macht in der Presse Stimmung gegen den Skulpturen-Park. Sibirien-Überlebende fürchten, der Ort könne zur Wallfahrtsstätte für Unbeirrbare werden. In der Tat: Rote Nelken welken vor der einen oder anderen Statue. Manchen später Geborenen stört dagegen, dass fast alle Hinweise auf die Sowjet-Vergangenheit aus der Öffentlichkeit verschwunden sind. Die Erinnerung an KGB-Terror ist ins Museum in Vilnius verbannt, ein zwar eindringliches, aber eben museales Pflichtprogramm für Schulklassen. Monumente für die von den Nazis ermordeten Juden aus Vilnius, dem einstigen "Jerusalem des Ostens", sind ähnlich versteckt. Auf dem Land unterwegs stolpert der Spaziergänger manchmal unvermittelt über ein zugewachsenes Denkmal für das eine oder andere Massaker.Der Mittelpunkt Europas, die Wiese bei Vilnius, der "Fixpunkt für Baltikumtouristen" (wie ihn das Tourismusministerium nennt), sei Privatbesitz, ist in litauischen Zeitungen zu lesen; der Staat bemühe sich vergeblich, das zu ändern: Enteignungen sind in der ehemaligen Sowjetrepublik nicht mehr vorgesehen. So könne es passieren, dass eine alte Bäuerin die verdutzten Besucher der Mitte Europas beschimpft. Da kann sie noch froh sein, dass sich der Mittelpunkt zumindest bislang nicht zum Wallfahrtsort entwickelt hat. Die Litauer, so scheint es, legen auf ihre Mitte gar nicht so viel wert. Aber vielleicht pilgert auch deshalb kaum jemand zum geografischen Zentrum, weil die Mitte Europas sich eben nicht mit Zirkel und Lineal feststellen lässt. Jeder beliebige Ort in Europa eignet sich zur Suche nach dessen Gestalt. Auch für den Filmemacher Stanislaw Mucha waren die vermeintlichen Mitten nur Anhaltspunkt für Plaudereien, in denen Europa mit ostmitteleuropäischem Akzent spricht. Das liegt wohl nicht nur an den Vorlieben des Polen: Alteuropäischer Geist atmet in Altstädten und auf Dorfplätzen des Ostens wohl doch freier als in durch filialisierten und tot renovierten Fußgängerzonen des Westens.Die Mitte liegt in einer anderen Art Landschaft, versteckt sich in Bücherregalen, kursiert im Internet, blättert in Jahrzehnte alten Farbschichten von den Wänden der Altstädte und von abrissreifen Plattenbauten in Eisenach oder Poznan, Prag oder Paris. Jetzt ist ein Film in den Kinos, der den Charme dieses Europas nutzt: Before Sunset, eine Hollywood-Produktion, ausgerechnet. Mann und Frau schlendern durch Paris und reden: Das ist Europa. Daran hat sich im letzten Jahrzehnt wenig geändert, seit dem Vorgänger-Film Before Sunrise: Mädchen und Junge schlenderten da redend durch Wien. Vielleicht schlendern sie im dritten Teil durch Vilnius oder Kiew. Und sagen: Das ist Europa.
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