Mit dem Verstande ist Russland nicht zu begreifen. Alles, was man in den vergangenen Monaten aus dem russischen Riesenreich hörte, vermittelt den Anschein, dass diese Sentenz des Dichters Fjodor Tjutschew aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert bis heute Gültigkeit besitzt.
Aufsehen erregende Auftragsmorde an missliebigen Personen, Machtpoker im Inneren wie im Äußeren und aggressiver Nationalismus sind die Stichworte, die den politischen Beobachtern Kopfzerbrechen bereiten. Angesichts der anstehenden Wahlen - Parlamentswahlen im Dezember 2007 und Präsidentschaftswahlen im März 2008 - formieren sich die Kräfte der politischen Elite im Kampf um die Sicherung ihrer Machtpositionen. Im politischen System der "gelenkten Demokratie", in dem entlang der "Machtvertika
der "Machtvertikalen" von oben nach unten durchregiert wird, wird die unabhängige Opposition immer ohnmächtiger.Zwar gibt es im russischen Parlament bis jetzt eine ganze Reihe von Oppositionsparteien. Rund 20 von ihnen werden womöglich an den nächsten Duma-Wahlen teilnehmen. Wie es aber um deren Wirksamkeit bestellt ist, lässt sich am Beispiel der Wahlen zu den Regionalvertretungen ablesen, die gerade am 11. März stattfanden. Mehrere von ihnen wurden durch bürokratische Hürden und juristische Tricks von der Teilnahme ausgeschlossen. Der Marsch der Nichteinverstandenen am 3. März, zu dem sich immerhin einige Tausend in St. Petersburg einfanden, war von der putintreuen Gouverneurin Matwijenko im Stadtzentrum untersagt worden und wurde von der Miliz brutal aufgelöst. Zahlreiche Demonstranten wurden festgenommen und verletzt. Man darf gespannt sein, wie die russische Parteienlandschaft bei den Wahlen im Dezember aussehen wird.Zusammengefasst wird diese Entwicklung in Russland in der Formel von der "souveränen Demokratie", mit der seit einiger Zeit ein eigenes russisches Demokratiemodell definiert wird. Tatsächlich aber ist dies der Deckmantel für eine autoritäre Staatsstruktur, für eine Scheindemokratie, in der eine Opposition zwar formal existieren und Kritik üben darf, aber tatsächlich kaum mehr eine faire Chance hat. Wohin die Entwicklung führen mag, bleibt zumindest bis zu den Wahlen des neuen Präsidenten, ungewiss. Dass sich die russische Demokratie zu einer lupenreinen wandeln wird, ist allerdings eher unwahrscheinlich. Zu weit entfernt scheint die russische Politik mittlerweile vom demokratischen Auftrag der Verfassung. Ebenso wie die Bevölkerung von der Begeisterung für die neue Staatsform in den Perestroika-Jahren.Zwei Veröffentlichungen zeigen, dass es tatsächlich wenig Grund für Optimismus gibt. "Es war ein gewaltiger Irrtum des Westens, lange so zu tun, als könne sich Russland nach 70 Jahren Kommunismus von heute auf morgen zu einer echten Demokratie wandeln. Doch statt sich mit winzigen Schritten in Richtung Demokratie, Menschenrechte und Bürgergesellschaft zu bewegen, marschiert Russland mit festem Schritt in Richtung autoritärer Vergangenheit, hin zu einer Mischung aus Kommunismus und Zarismus." Mit dieser Einschätzung zieht der Focus-Korrespondent Boris Reitschuster in seinem Buch Putins Demokratur (mit dem etwas reißerischen Untertitel Wie Russland den Westen das Fürchten lehrt) Bilanz der sich dem Ende zuneigenden Ära Putin. Bei dem Stichwort Focus reagiert man zunächst skeptisch. Doch die Berichte Reitschusters, der seit vielen Jahren mit seiner Familie in Moskau lebt, sind ebenso gut recherchiert wie beunruhigend.Während die Befürworter der Politik des Kreml die Regierungszeit Putins als Erfolgsgeschichte sehen - schließlich wurde unter seiner Führung die Gefahr des staatlichen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs Russlands, vor dem es am Ende der Regierung Jelzin stand, abgewendet und so die vom Westen ebenso wie von der eigenen Bevölkerung sehnlich gewünschte "Stabilität" erreicht - zeigen Reitschusters wie Reportagen verfasste Kapitel anhand zahlreicher Beispiele, dass die "Diktatur der Apparatschiks" (Reitschuster) im Russland des Jahres 2006 alle Bereiche des politischen und öffentlichen Lebens erfasst hat. Willkür, Korruption und Rassismus prägen Parlament, Justiz und Medien. "Verfassung und demokratische Werte sind zur Makulatur geworden", konstatiert Reitschuster.Wie es einem ergehen kann, der in das Räderwerk der gelenkten Justiz geraten ist, beschreibt der Moskauer Professor der Philosophie Michail Ryklin in seinem Essay Mit dem Recht des Stärkeren. Persönlich betroffen, denn seine Frau stand aufgrund der Anklage des "Schürens nationalen und religiösen Zwists" vor Gericht, beschreibt Ryklin die Absurdität einer Gerichtsverhandlung, in der aus Opfern plötzlich Täter wurden, über die von der (gelenkten) Öffentlichkeit Häme und Hass ausgeschüttet wird. Der Sachverhalt: Nach der Zerstörung der Ausstellung mit dem in Russland anscheinend provokativen Titel "Achtung Religion!" im Januar 2003 wurden die Gerichtsverfahren gegen die wegen "Vandalismus" angeklagten eingestellt und die Schuldfrage kurzerhand umgekehrt. Auf der Anklagebank fanden sich kurz darauf die Organisatoren der Ausstellung wieder, weil diese die religiösen Gefühle orthodoxer Gläubiger verletzt habe.Anderthalb Jahre lebten der Philosoph und seine Familie in einem schwebenden Verfahren mit unberechenbarem Ausgang und machten ungewollt Bekanntschaft mit den dunkelsten Seiten der russischen Gesellschaft. Vom ganz offensichtlich gekauften Publikum mussten sich die Angeklagten und ihre Verwandten als "Jiddenfressen" beschimpfen lassen, die nach Israel verschwinden sollten. Die unbeirrte Reaktion der Staatsanwältin war ganz im Sinne der Anklage: "Sie haben diese Einstellung selbst provoziert." Zu Beginn des Prozesses glaubten Ryklin und seine Frau noch an ihre gesetzlich verbrieften Rechte. Doch dieser Glaube erwies sich als ihr "größter Fehler": "Wie sich zeigte, haben wir solche Rechte im heutigen Russland nicht. Was wir für Rechte hielten, erwies sich als manipulierbar."Wie manipulierbar das Recht des Einzelnen in der "Diktatur des Gesetzes" (Putin) tatsächlich ist, ist spätestens seit dem Prozess gegen den Erdöl-Magnaten Michail Chodorkowski offensichtlich, in dem demonstriert wurde, wie unabhängige rechtsstaatliche Institutionen für politische und ökonomische Interessen eingespannt werden können. Die Zerschlagung des zu jener Zeit größten russischen Erdölkonzerns Jukos ist ein Musterbeispiel für die willkürliche Anwendung der Gesetze. Während Multimilliardäre wie Roman Abramowitsch, auch er im Erdölsektor tätig und zugleich Inhaber eines Gouverneurspostens sowie Besitzer des Fußballclubs Chelsea London, der zweifellos auf ähnlich schmutzige Weise zu seinem Vermögen gekommen ist wie Chodorkowski, seiner Geschäftstätigkeit in Russland unbehelligt weiter nachgehen kann und auch auf politischem Posten mitmischt, wurde am unbotmäßigen Chodorkowski ein Exempel statuiert. Der Jukos Prozess "war der Beginn eines kalten Bürgerkrieges", zitiert Reitschuster den damaligen Wirtschaftsberater Putins, Andrej Illarionow. "Wenn die Gesetze willkürlich angewandt werden, wenn von zwei Menschen, die auf die gleiche Weise reich geworden sind, der eine Orden umgehängt bekommt und der andere Handschellen, dann ist etwas faul im Staat, dann haben wir eine Willkür-Herrschaft", so Illarionow.Überzeugende Beispiele für die Instrumentalisierung der Rechtsordnung für machtpolitische Zwecke bieten Reitschuster und Ryklin zuhauf. Seien es die absurden Spionageprozesse gegen Journalisten und Wissenschaftler, mit denen Kritiker der Kreml-Politik mundtot gemacht wurden, sei es das im April 2006 verabschiedete NGO-Gesetz, das die Tätigkeit unabhängiger Organisationen erheblich erschwert oder das neue Extremismus-Gesetz, das als Generalabwehr jeglicher Kritik angewandt werden kann, sei es nicht zuletzt der "ideologische Prozess" gegen Künstler und Organisatoren der Ausstellung "Achtung Religion"."Wir sind Zeugen eines Prozesses, in dem sich ein neuer Autokratismus etabliert", schreibt Michail Ryklin. Sein Buch versucht zweierlei: die persönliche Beschreibung des Ausgeliefertseins in diesem Prozess und die gesellschaftspolitische Analyse. Indem er das Strafverfahren gegen seine Frau und ihre Mitangeklagten, das mit Freispruch und Geldstrafen noch vergleichsweise harmlos endete, zum Anlass nimmt, wird Ryklin vom Beobachter zum Betroffenen. Und hier liegt die Schwäche seines Buches, das an manchen Stellen ziemlich redundant und stellenweise sogar widersprüchlich ist. So vergleicht Ryklin die Situation seiner Familie am Anfang seiner Ausführungen mit der jener, "die unter dem faschistischen Regime aus rassischen oder politischen Gründen verfolgt wurden" (solche Vergleiche sind einfach immer wieder ärgerlich, denn bei aller Bedrohlichkeit der Situation drohte seiner Gattin schließlich nicht der Tod im Vernichtungslager), um gegen Ende zu bilanzieren: "Eine Art kleiner Stalinismus zeichnet sich ab." Ja, was denn nun, fragt man sich - faschistisches Regime oder Stalinismus light?Eine Erfolgsgeschichte ist das System Putin, was die Demokratieentwicklung betrifft, also nicht. Dies zeigt die Lektüre der Bücher Reitschusters und Ryklins überaus deutlich. Bei aller Unterschiedlichkeit sind beide Veröffentlichungen emotional geprägte Bestandsaufnahmen der bisherigen Geschichte des postsowjetischen Russland. Sicher ist der plakativ-erregte Focus-Stil Reitschusters nicht jedermanns Sache. Dies mindert jedoch, leider, nicht den Wert der Schlussfolgerung, die Reitschuster und Ryklin einhellig ziehen: Um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist es in Russland nicht gut bestellt.Vielleicht werden in einigen Jahrzehnten die Historiker die Frage stellen, wie es möglich war, dass Russland nach den hoffnungsvollen Jahren der Perestroika-Zeit wieder zu einem autoritären Regime werden konnte. Beide Autoren weisen auf eine wichtige Tatsache hin, von denen die Entwicklung in Russland beeinflusst wird: In einer Gesellschaft, in der nach den Jahren der Anarchie und des Raubtierkapitalismus der Regierung Jelzin die Demokratie als Gesellschaftsform dem Großteil der Bevölkerung als untauglich erscheint und viele der vermeintlichen Stabilität und den sozialen Sicherheiten der alten Sowjetunion hinterher trauern, ist "die Fähigkeit der Gesellschaft zum Widerstand schwach" (Ryklin). Da bleibt selbst Russland-Freunden offenbar nichts anderes übrig, als an das mit dem Verstand nicht zu begreifende Russland zu glauben. Das sah schon Fjodor Tjutschew so.Boris Reitschuster: Putins Demokratur. Wie der Kreml den Westen das Fürchten lehrt. Econ, Berlin 2006. 333 S., 19,95 EURMichail Ryklin: Mit dem Recht des Stärkeren?Russische Kultur in Zeiten der "gelenkten Demokratie". Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, 240 S., 10,30 EUR
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